Wir erzählen uns Geschichten
Neulich am Flughafen: Zwei Menschen stehen vor dem Schalter.
Gleiche Körperhaltung. Gleiche Neugier in den Augen.
Der eine wird durchgewunken. Der andere muss Formulare ausfüllen.
Warum?
Wegen des Passes in ihrer Hand.
Der Anlass für diese Gedanken war eine Nachricht eines jungen nepalesischen Journalisten. Er schrieb, wie ihn eine Serie über die Wikinger plötzlich für Orte wie Uppsala und Konstantinopel begeisterte, für die Gelehrten der islamischen Blütezeit und für die Vielfalt alter Kulturen. Er liebt Nepal, die vedische Tradition, die Kraft der Berge – und zugleich sieht er, wie sehr auch die westliche Welt zur Geschichte der Menschheit beigetragen hat. „Wir sind Stoffe verschiedener Farben, die gemeinsam ein ganzes Tuch ergeben“, schrieb er. Und er fragte sich, warum wir daraus Gegensätze machen wollen: Ost gegen West, Nord gegen Süd.
Wir Menschen sind verbunden.
Nicht nur biologisch.
Nicht nur wirtschaftlich.
Auch geistig.
Und doch ziehen wir Linien: Nation, Religion, Kaste, Hautfarbe.
Diese Zeichen sagen: Hier gehöre ich hin.
Der Schal des Vereins.
Die Gebete am Morgen.
Der Familienname im Dorf.
Der Pass an der Grenze.
Das alles gibt Wärme.
Identität schützt.
Sie schafft Nähe, Fürsorge, Verantwortung.
Manchmal auch Sicherheit: Wer dazu gehört, wird nicht fallen gelassen.
Doch dieselben Zeichen können sich verhärten.
Aus dem Wir wird ein Nicht Ihr.
Wir grenzen ab.
Wir ordnen ein.
Wir werten.
Und irgendwann herrschen wir.
Mit „Geschichten“ meine ich die Erzählungen, die unser Verhalten ordnen:
Mythen, Nationen, Rollenbilder.
Sie entstehen aus einer Fähigkeit, die uns von anderen Tieren unterscheidet:
Wir können über uns selbst nachdenken.
Wir stellen Fragen.
Wir deuten.
Unsere Körper sind nicht stark wie die vieler Tiere. Keine Klauen, keine Panzer.
Aber wir haben Ausdauer. Hände, die Werkzeuge halten. Und ein Gehirn, das erinnert und plant.
Die Evolution gab uns dieses Gehirn.
Es reflektiert über uns, über andere, über Zeit.
Und aus dieser Fähigkeit entstanden Kathedralen, Hospitäler, Brücken.
Auch Rituale, Grenzen und Götter.
Die Frage ist nicht, ob wir solche Geschichten brauchen.
Wir brauchen sie. Sie ermöglichen Zusammenarbeit.
Die Frage ist:
Dienen unsere Geschichten dem Leben – oder engen sie es ein?
Eine Geschichte dient dem Leben, wenn sie:
- Kooperation erleichtert, statt sie zu verhindern.
- Gewalt reduziert, statt sie zu rechtfertigen.
- Handlungsräume öffnet, statt sie zu verschließen.
- sich verändern lässt, wenn Wirklichkeit sie widerlegt.
Freiheit beginnt dort, wo wir merken:
Wir haben diese Geschichten selbst erfunden.
Wir können sie auch neu erzählen.
Nicht gegen andere.
Sondern miteinander.
English version below
We Tell Ourselves Stories
Recently at an airport: Two people stood at the counter.
Same posture. Same curiosity in their eyes.
One was waved through. The other was asked for forms and explanations.
Why?
Because of the passport in their hand.
The trigger for these reflections was a message from a young Nepali journalist. He wrote how a series about the Vikings sparked his interest in places like Uppsala and Constantinople, in the scholars of the Islamic Golden Age and the diversity of ancient cultures. He loves Nepal, the Vedic heritage, the strength of the mountains – and at the same time, he recognizes how much the Western world has contributed to human history. “We are fabrics of different colors that make one cloth,” he wrote. And he wondered why we turn this into opposition: East versus West, North versus South.
We human beings are connected.
Not only biologically.
Not only economically.
But also through meaning and imagination.
And yet we draw lines: nation, religion, caste, skin color.
These signs say: This is where I belong.
The supporter’s scarf.
Morning prayers.
The family name everyone in the village knows.
The passport at the border.
All of this brings warmth.
Identity protects.
It creates closeness, care, and responsibility.
Sometimes even safety: belonging means not being abandoned.
But the same signs can harden.
The we becomes a not you.
We separate.
We classify.
We judge.
And sooner or later, we dominate.
By “stories,” I mean the shared narratives that guide our behavior:
myths, nations, role models.
They arise from a uniquely human ability:
We reflect on ourselves.
We ask questions.
We interpret.
Our bodies are not strong like those of many animals. No claws, no armored skin.
But we have endurance. Hands that build tools. And a mind that remembers and plans.
Evolution gave us this mind.
It reflects on us, on others, on time.
And from this ability came cathedrals, hospitals, bridges.
And also rituals, borders, and gods.
The question is not whether we need stories.
We do. They make cooperation possible.
The question is:
Do our stories support life – or do they restrict it?
A story supports life when it:
- Encourages cooperation instead of blocking it.
- Reduces violence instead of justifying it.
- Expands our possibilities instead of narrowing them.
- Can change when reality challenges it.
Freedom begins when we realize:
We invented these stories ourselves.
We can also rewrite them.
Not against others.
But together.