Mama fragt: Wer ist Heidegger – und warum sollten wir ihm heute zuhören?
In Münster sitzt meine Mutter am Tisch.
85 Jahre alt.
Im Kopf wacher als viele Debattenrunden.
Sie liest meine Texte. Manchmal zweimal. Manchmal dreimal. Dann schaut sie auf und sagt einen dieser Sätze, die mehr treffen als jede Rezension:
„Mit Heidegger kann ich nichts anfangen.“
Kein Vorwurf. Kein Spott. Nur Ehrlichkeit.
Und sofort ist klar: Wenn Heidegger heute noch eine Rolle spielen soll, dann nicht als Denkmal, nicht als Pflichtlektüre – sondern als jemand, der uns hilft, etwas Wesentliches zu bemerken.
Heidegger, ganz einfach
Heidegger ist der Denker, der uns davor warnt, die Welt nur noch zu bedienen, zu messen und zu erklären – und dabei zu vergessen, sie zu erleben.
Er sagt:
Bevor wir über die Welt nachdenken, sind wir schon mittendrin.
Nicht als Zuschauer.
Nicht als Bediener.
Sondern als Teil des Geschehens.
Wir stehen der Welt nicht gegenüber wie einem Gerät, das man analysiert.
Wir leben in ihr.
Wir handeln in ihr.
Wir fühlen in ihr.
Das klingt banal. Ist es aber nicht. Denn genau das vergessen wir erstaunlich leicht.
Der Baum und der Stuhl
Hier ein einfaches Beispiel.
Ein Baum steht da.
Für sich.
Lebendig.
Gewachsen.
Für lange Zeit ist er einfach: Baum.
Dann kommt der Mensch.
Er sieht im Baum kein Lebewesen mehr, sondern Material.
Holz.
Rohstoff.
Bestand.
Der Baum wird gefällt.
Zersägt.
Verarbeitet.
Am Ende steht ein Stuhl.
Jetzt sagen wir:
Wir haben den Baum verstanden.
Er war ja eigentlich schon immer ein Stuhl – nur noch nicht realisiert.
Und genau hier beginnt die Verblendung.
Denn der Baum war nicht dazu da, ein Stuhl zu werden.
Der Stuhl ist unsere Idee.
Unsere Nutzung.
Unser Zugriff.
Heidegger sagt: Moderne Technik verführt uns dazu zu glauben, wir hätten die Welt verstanden, nur weil wir sie verwerten können. Wir verwechseln Machbarkeit mit Wahrheit.
Wenn alles nur noch Vorrat ist
Heidegger nennt das den Blick auf den Bestand:
die Welt als Lager.
die Natur als Reserve.
den Menschen als Ressource.
Der Wald wird zur Holzmenge.
Der Fluss zur Energiequelle.
Der Mensch zur Arbeitskraft.
Das Problem ist nicht, dass wir Stühle bauen.
Oder Häuser.
Oder Werkzeuge.
Das Problem ist, dass wir dabei vergessen, dass wir vergessen.
Vergessen, dass der Baum einmal Baum war.
Vergessen, dass wir selbst Teil dieser Welt sind – nicht ihre Eigentümer.
Meine Mutter würde sagen:
„Man kann alles kaputt verstehen.“
Sie hat recht.
Nicht alles erklären, manches aushalten
Heidegger plädiert nicht für Technikfeindlichkeit.
Er plädiert für Zurückhaltung.
Für Denken als Aufmerksamkeit.
Als Hören.
Als Geduld.
Nicht alles sofort erklären.
Nicht alles beherrschen wollen.
Manches aushalten.
Manches beobachten.
Manches fühlen.
Weniger Subjekt–Prädikat–Objekt.
Mehr Nähe zur Poesie.
Nicht, weil Poesie schöner ist.
Sondern weil sie mehr offen lässt.
Meine Mutter und das Wesentliche
Wenn ich meiner Mutter von Heidegger erzähle, dann nicht mit Begriffen wie Dasein oder Gestell. Ich erzähle ihr vom Baum und vom Stuhl.
Sie nickt.
Nicht philosophisch.
Sondern lebensklug.
Sie hat ein Leben lang erlebt, dass man nicht alles planen kann.
Dass Kontrolle eine Illusion ist.
Dass Nähe wichtiger ist als Erklärung.
Vielleicht ist das der Punkt, an dem Heidegger heute noch zählt.
Nicht als System.
Nicht als Autorität.
Sondern als Erinnerung.
Pass auf.
Du bist schon mittendrin.
Und wenn meine Mutter mich das nächste Mal fragt, wer Heidegger ist, sage ich:
Heidegger ist der, der uns daran erinnert,
dass die Welt kein Bedienfeld ist,
sondern ein Geschehen.
Und dass man manches nur versteht,
wenn man aufhört, es in einen Stuhl zu verwandeln.
English version below
My mother asks: Who is Heidegger – and why should we listen to him today?
In Münster, my mother sits at the table.
Eighty-five years old.
Her mind sharper than many public debates.
She reads my texts. Sometimes twice. Sometimes three times. Then she looks up and says one of those sentences that land harder than any review:
“I don’t know what to do with Heidegger.”
No accusation. No irony. Just honesty.
And immediately it’s clear: if Heidegger still matters today, then not as a monument, not as required reading—but as someone who helps us notice something essential.
Heidegger, simply put
Heidegger is the thinker who warns us against treating the world only as something to operate, measure, and explain—and in doing so, forgetting how to experience it.
He says:
Before we reflect on the world, we are already in it.
Not as spectators.
Not as operators.
But as part of what is happening.
We don’t stand opposite the world like a device to be analyzed.
We live in it.
We act in it.
We feel in it.
That sounds obvious. It isn’t. Because it’s precisely what we so easily forget.
The tree and the chair
Here’s a simple example.
A tree stands there.
On its own.
Alive.
Grown.
For a long time, it is simply a tree.
Then humans arrive.
They no longer see a living being, but material.
Wood.
Raw resource.
Inventory.
The tree is cut down.
Sawn apart.
Processed.
In the end, there is a chair.
Now we say:
We have understood the tree.
It was really a chair all along—just not yet realized.
And this is where self-deception begins.
The tree was not there to become a chair.
The chair is our idea.
Our use.
Our access.
Heidegger says: modern technology tempts us to believe we have understood the world simply because we can use it. We confuse feasibility with truth.
When everything becomes inventory
Heidegger calls this way of seeing the world standing reserve:
the world as warehouse.
nature as reserve stock.
human beings as resources.
The forest becomes a quantity of timber.
The river an energy source.
The human being a labor unit.
The problem isn’t that we build chairs.
Or houses.
Or tools.
The problem is that, in doing so, we forget that we are forgetting.
We forget that the tree was once a tree.
We forget that we ourselves are part of this world—not its owners.
My mother would say:
“You can explain anything to death.”
She’s right.
Not everything needs explaining
Heidegger is not anti-technology.
He argues for restraint.
For thinking as attentiveness.
As listening.
As patience.
Not explaining everything right away.
Not wanting to control everything.
Enduring some things.
Observing some things.
Feeling some things.
Less subject–predicate–object.
More closeness to poetry.
Not because poetry is prettier.
But because it leaves more open.
My mother and what matters
When I talk to my mother about Heidegger, I don’t use terms like Dasein or enframing. I tell her about the tree and the chair.
She nods.
Not philosophically.
But wisely.
She has spent her life learning that not everything can be planned.
That control is an illusion.
That closeness matters more than explanation.
Maybe that’s where Heidegger still matters today.
Not as a system.
Not as an authority.
But as a reminder.
Pay attention.
You’re already in the middle of it.
And when my mother asks me again who Heidegger is, I’ll say:
Heidegger is the one who reminds us
that the world is not a control panel,
but an unfolding.
And that some things can only be understood
when we stop turning them into chairs.