Die Suche nach Glück – und warum sie uns ins Tief zieht
(Ein Blick auf die Opponent-Prozess-Theorie)
Die Jagd nach dem Hoch
Der Mensch sucht Glück. Wir laufen, schwimmen, radeln, reisen. Wir lieben, wir trinken, wir stürzen uns in Abenteuer. Immer weiter, immer mehr. Unser Gehirn treibt uns an. Dopamin belohnt uns nicht fürs Finden, sondern fürs Suchen.
Doch jedes Hochgefühl kippt. Euphorie weicht Ernüchterung. Lust bringt Schuld. Freude schlägt in Trauer um. Die Suche nach Glück führt in Spiralen. Das Hoch schwindet, das Tief wächst. Am Ende bleibt Ernüchterung, Schuld oder Abhängigkeit.
Warum das so ist, zeigt die Opponent-Prozess-Theorie von Richard Solomon und John Corbit.
Vom Schrecken zur Euphorie
Wer zum ersten Mal aus einem Flugzeug springt, erlebt die Hölle. Der freie Fall zerreißt das Nervensystem, der Boden rast entgegen, jeder Instinkt schreit nach Flucht. Sekunden später kippt das Gefühl. Panik verwandelt sich in Euphorie. Am Boden lacht der Springer, jubelt, fühlt sich unbesiegbar.
Mit jedem Sprung wird die Angst kleiner, die Euphorie größer. Bald reicht ein Sprung nicht mehr. Es wird zur Routine. Manche springen jedes Wochenende.
Dasselbe Muster zeigt sich beim Bungee-Jumping, beim Eintauchen in eiskaltes Wasser oder beim ersten Schluck Alkohol. Zuerst Schock, Schmerz oder Übelkeit. Dann Erleichterung, Zugehörigkeit, Rausch.
Die Theorie: Gefühl und Gegengefühl
1974 beschrieben Solomon und Corbit dieses Muster wissenschaftlich. Sie bauten auf der Homöostase-Theorie von Walter Cannon auf. Cannon hatte Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt: Der Körper hält Gleichgewicht – Temperatur, Blutdruck, Blutzucker. Solomon und Corbit übertrugen das Prinzip auf Gefühle.
Im Zentrum stehen zwei Prozesse. Der a-Prozess: das unmittelbare Gefühl, ausgelöst durch ein Ereignis – Angst, Freude, Lust, Schmerz. Der b-Prozess: das Gegengefühl. Es setzt später ein, ist anfangs schwächer, hält aber länger an – Erleichterung, Schuld, Müdigkeit, Trauer.
Mit Wiederholung verändert sich das Verhältnis. Das Hoch wird schwächer. Das Gegengefühl wird stärker, setzt schneller ein, bleibt länger. So entsteht die Spirale: Wir suchen das Glück, finden aber immer häufiger das Gegenteil.
Beispiele aus dem Leben
Man sieht es im Sport. Beim ersten Zehn-Kilometer-Lauf triumphiert man. Danach kommt die Müdigkeit. Beim zweiten Mal ist der Stolz kleiner, die Erschöpfung gleich groß. Also folgt der Halbmarathon, der Marathon. Auch im Extremsport gilt: Die Angst wird kleiner, die Euphorie größer – bis man den nächsten Kick sucht.
Man sieht es in der Liebe. Verliebtheit ist Rausch. Doch nach Wochen kommen Zweifel, Schuld, Leere. Viele fliehen in die nächste Beziehung, um das Hoch erneut zu erleben.
Man sieht es in der Krankheit. Ein Krebspatient hört Kirchenmusik, besucht vertraute Orte. Er fühlt Glück, fast Transzendenz. Wenig später zwingt ihn die Chemotherapie zurück in Schwäche, Übelkeit, Todesangst. Der Körper hält ihn im Wechselspiel von Erhebung und Ernüchterung.
Am deutlichsten zeigt sich das Muster in der Alkoholsucht. Der erste Schluck brennt, schmeckt bitter, macht schwindlig. Genuss ist das nicht. Doch dann folgt das Gefühl: Enthemmung, Zugehörigkeit, Leichtigkeit. Am nächsten Morgen kommt der Kater, die Schuld, die Zerschlagenheit. Mit den Jahren bleibt nur das Tief. Jeder Tropfen Alkohol ist Gift. Er zerstört Zellen. Trotzdem gilt er in Deutschland als gesellschaftlich akzeptiert, in Nepal als allgegenwärtiges Familiengift. Alkohol tötet leise, während er lächelnd ausgeschenkt wird.
Mehr als Biologie
Die Theorie erklärt ein Grundmuster, aber nicht das ganze Leben. Biografie spielt eine Rolle. Wer Gewalt, Ausgrenzung oder frühe Verluste erlebt, trägt stärkere Gegengefühle. Gesellschaft formt Emotionen. In katholischen Kulturen ist Schuld moralisch aufgeladen. In buddhistischen Zusammenhängen gilt sie eher als Anhaftung. In sozialen Medien wird sie zu Scham vor den Augen der anderen.
Auch die Psyche setzt Akzente. Resilienz, Bindungsstile, Traumata entscheiden, wie stark man im Pendel schwingt.
Die Forschung denkt die Theorie weiter. In der Neurobiologie der Sucht zeigen George Koob und Michel Le Moal, wie sich der b-Prozess verselbständigt: Das Hoch schwindet, das Tief dominiert. In Studien zur Emotionsregulation untersuchen Messina und Kollegen, wie Strategien wie Akzeptanz das Gefühls-Pendel beeinflussen. Monachesi fand Unterschiede zwischen Akzeptanz und kognitiver Neubewertung.
Auch in der Psychotherapie hat die Theorie Folgen. In der Angsttherapie setzt man Patienten bewusst dem Schrecken aus. Erst Panik, dann Erleichterung. Mit Wiederholung schrumpft die Panik, wächst die Erleichterung. In der Suchttherapie hilft die Theorie, die Spirale sichtbar zu machen. Wer versteht, dass Alkohol das Hoch nur schwächt und das Tief verstärkt, kann Alternativen suchen: Sport, Musik, soziale Anerkennung.
Der Sinn der Gegensätze
Bleibt die Frage: Müssen wir uns damit abfinden, dass jedes Glück vergeht und jedes Leid zurückkehrt?
Vielleicht ist es anders. Das Gegengefühl ist kein Fehler, sondern eine Ergänzung. Ohne Müdigkeit keine Erholung. Ohne Schuld keine Verantwortung. Ohne Angst kein Mut. Gefühle sind kein Stillstand, sondern Bewegung. Kein Ende, sondern ein Dialog der Gegensätze.
Philosophen haben das gespürt. Kierkegaard sprach von der Dialektik zwischen Verzweiflung und Glauben. Nietzsche deutete das Leben als ewige Wiederkehr, als Kreislauf aus Hoch und Tief. Die Psychologie bestätigt nur, was die Weisheitstraditionen seit Jahrhunderten ahnen: Leben heißt, Spannungen auszuhalten – nicht sie zu überwinden.
Schlussgedanke
Im Sport, in der Liebe, in der Krankheit, in der Sucht: Wir suchen Glück. Immer neu, immer mehr. Doch jedes Hoch ruft sein Tief hervor.
Solomon und Corbit gaben diesem Muster einen Namen. Vielleicht liegt ihre wichtigste Botschaft darin: Kein Glück ist ewig – aber auch kein Leid bleibt. Sinn entsteht nicht, wenn wir das Pendel anhalten. Sinn entsteht, wenn wir begreifen, dass wir im Schwanken zwischen Hoch und Tief lebendig sind.
English version below
The Pursuit of Happiness – and Why It Pulls Us Down
(A Look at Opponent-Process Theory)
Chasing the High
Human beings long for happiness. We run, swim, cycle, travel. We fall in love, we drink, we dive into adventures. Always further, always more. Our brain drives us forward. Dopamine does not reward us for finding, but for seeking.
But every high tips over. Euphoria fades into disappointment. Pleasure turns into guilt. Joy sinks into sorrow. The pursuit of happiness creates spirals. The highs shrink, the lows grow. In the end, we are left with disappointment, guilt, or addiction.
This paradox is at the heart of the Opponent-Process Theory, introduced by Richard Solomon and John Corbit.
From Terror to Euphoria
Anyone jumping out of a plane for the first time experiences hell. Free fall rips through the nervous system, the ground races closer, every instinct screams for escape. Seconds later, the feeling flips. Panic turns into euphoria. On the ground, the jumper laughs, cheers, feels invincible.
With every jump, fear shrinks and euphoria grows. Soon, one jump is not enough. It becomes routine. Some jump every weekend.
The same pattern appears in bungee jumping, in plunging into icy water, or in the first sip of alcohol. At first: shock, pain, nausea. Then: relief, belonging, intoxication.
The Theory: Feeling and Counter-Feeling
In 1974, Solomon and Corbit described this pattern scientifically. They built on Walter Cannon’s theory of homeostasis. Cannon had shown that the body keeps balance—temperature, blood pressure, blood sugar. Solomon and Corbit applied this principle to emotions.
Two processes are central. The a-process: the immediate feeling triggered by an event—fear, joy, pleasure, pain. The b-process: the counter-feeling. It comes later, weaker at first, but longer lasting—relief, guilt, fatigue, sorrow.
With repetition, the balance changes. The high grows weaker. The counter-feeling grows stronger, starts earlier, lasts longer. Thus the spiral emerges: we seek happiness but more often find its opposite.
Examples from Life
You see it in sports. The first ten-kilometer run ends in triumph. Then comes exhaustion. The second time, pride is smaller, fatigue just as heavy. So follows the half-marathon, then the marathon. In extreme sports the same holds true: fear shrinks, euphoria grows—until the next kick is needed.
You see it in love. Falling in love is intoxication. But after weeks come doubt, guilt, emptiness. Many flee into the next relationship, chasing the high again.
You see it in illness. A cancer patient listens to church music, visits familiar places. He feels joy, almost transcendence. Soon after, chemotherapy drags him back into weakness, nausea, fear of death. The body forces him into the swing between uplift and sobering.
The pattern is clearest in alcoholism. The first sip burns, tastes bitter, causes dizziness. There is no pleasure. But then comes the feeling: disinhibition, belonging, lightness. The next morning: hangover, guilt, exhaustion. Over the years, only the low remains. Every drop of alcohol is poison. It destroys cells. And yet in Germany it is socially accepted; in Nepal it devastates families. Alcohol kills quietly, while being poured with a smile.
More than Biology
The theory explains a basic pattern, but not all of life. Biography matters. Those who suffer violence, exclusion, or early loss carry stronger counter-feelings. Society shapes emotion. In Catholic cultures guilt is moral. In Buddhist contexts it is seen as attachment. On social media, it becomes public shame.
The psyche adds its own weight. Resilience, attachment styles, trauma decide how strongly someone swings in the pendulum.
Research continues the theory. In addiction studies, George Koob and Michel Le Moal show how the b-process becomes dominant: the high vanishes, the low rules. In emotion regulation research, Messina and colleagues explore how strategies like acceptance influence the pendulum of feeling. Monachesi showed differences between acceptance and cognitive reappraisal.
The theory also shapes psychotherapy. In exposure therapy for anxiety, patients face their terror. First panic, then relief. With repetition, panic shrinks, relief grows. In addiction therapy, the theory helps patients see the spiral. Those who grasp that alcohol weakens the high and strengthens the low can search for alternatives: sport, music, social recognition.
The Meaning of Opposites
So, must we accept that every joy fades and every sorrow returns?
Perhaps not. The counter-feeling is not a flaw, but a complement. Without fatigue, no recovery. Without guilt, no responsibility. Without fear, no courage. Feelings are not stillness, but movement. Not an end, but a dialogue of opposites.
Philosophers sensed this long before. Kierkegaard spoke of the dialectic between despair and faith. Nietzsche saw life as eternal recurrence, a cycle of highs and lows. Psychology merely confirms what wisdom traditions have long known: to live means to endure tension, not to escape it.
Conclusion
In sport, in love, in illness, in addiction: we seek happiness. Always new, always more. Yet every high calls forth its low.
Solomon and Corbit gave this pattern a name. Their deepest message may be this: no joy lasts forever, but no sorrow does either. Meaning is not found by freezing the pendulum. Meaning arises when we see that in swinging between high and low, we are alive.