Halt und Weite – warum ich mich noch einmal auf den Weg mache
Manchmal denke ich, mein Leben besteht aus Reisen – nicht nur durch Länder, sondern durch innere Landschaften. Jede führte mich an dieselbe Kreuzung: den Wunsch nach Halt und den Drang nach Weite. Ich glaubte, mit den Jahren würde sich das eine beruhigen und das andere abflachen. Stattdessen werden beide stärker. Vielleicht, weil Reife nicht Ruhe bedeutet, sondern waches Gehen.
Vom Clown zum Sozialarbeiter – und wieder zu mir
In den letzten Monaten schrieb ich über Clownerie und Schulsozialarbeit. Auf den ersten Blick zwei sehr verschiedene Welten, doch beide handeln von demselben: Wie bleibt der Mensch lebendig im Angesicht seiner Widersprüche?
Der Clown scheitert, aber mit Würde.
Der Sozialarbeiter hält aus, ohne zu urteilen.
Beide verkörpern, was Peter Fonagy „mentalisierende Haltung“ nennt: den Mut, das Denken des anderen zu denken – und dabei sich selbst nicht zu verlieren.
Ich merkte, dass mich diese Themen nicht zufällig anziehen. Sie sind Spiegel meiner eigenen Lebensfrage: Wie bleibe ich in Resonanz mit der Welt, wenn vieles um mich herum immer lauter, schneller und unverbundener wird?
Warum ich mit 68 nach Nepal gehe
Viele fragen mich, warum ich in meinem Alter noch einmal auswandere. Ich sage: vielleicht weil ich endlich ankommen will.
Hier im Norden Deutschlands ist mein Leben geordnet, vernünftig, sicher – und doch spüre ich eine wachsende Stille, die nicht Frieden ist, sondern Entfremdung. Die Gespräche werden sachlicher, die Tage kalkulierter, die Gesichter geschlossener. Alles ist da, und doch fehlt das, was trägt: Resonanz.
Nepal kam nicht als Flucht, sondern als Antwort.
Dort, wo das Leben weniger geregelt, aber näher am Menschen ist, spürte ich eine andere Art von Halt – eine, die nicht aus Kontrolle entsteht, sondern aus Beziehung. Vielleicht zieht mich das an: das Gefühl, dass Menschen sich gegenseitig halten, nicht Systeme sie tragen.
Von Bindung und Mentalisierung
Bowlby hätte gesagt: Ich suche Bindung. Fonagy würde hinzufügen: Ich suche jemanden, der mein Denken denkt.
Beides meint dasselbe – den Wunsch, verstanden zu werden. Wir alle brauchen das, von Kindesbeinen bis ins Alter.
In Deutschland sind wir Weltmeister im Denken, aber keine Meister im Verstehen. Wir erklären viel und hören wenig. Wir schaffen Strukturen, aber vergessen die Seelenräume dazwischen. Vielleicht zieht mich Nepal auch deshalb: weil dort Gemeinschaft nicht Theorie ist, sondern Überlebensform.
Wenn man einmal erlebt hat, dass Menschen mit kaum Besitz, aber großer Wärme leben, versteht man: Sicherheit ist nicht dasselbe wie Geborgenheit. Und manchmal muss man loslassen, um sich festhalten zu lassen.
Zwischen Ich und Wir
Ich frage mich, ob wir im Westen nicht an einer leisen Verarmung leiden: einer Überbetonung des Ichs. Wir kultivieren Selbstoptimierung, aber verlernen das Miteinander. Wir feiern Freiheit und übersehen, dass Freiheit ohne Beziehung zur Einsamkeit verkommt.
Vielleicht ist mein Entschluss, nach Nepal zu ziehen, auch eine stille Kritik an dieser Einseitigkeit – kein moralisches Urteil, eher eine biografische Konsequenz. Ich will nicht das Bessere, sondern das Ganze: die Erfahrung, dass man sich selbst nur im Blick des Anderen erkennt.
Heimat, die unterwegs entsteht
In einem früheren Beitrag schrieb ich: „Heimat ist die, die in mir wohnt.“
Heute würde ich hinzufügen: Heimat ist, wo das Ich auf ein Wir antworten darf. Vielleicht ist das der rote Faden meiner letzten Jahre – die Suche nach einem Zuhause, das nicht auf Landkarten zu finden ist, sondern im Gespräch, im Blick, im gemeinsamen Lachen.
Manchmal, wenn ich an meine nächsten Schritte denke – die Wohnung aufgeben, in ein anderes Land ziehen, mit anderen Menschen leben –, spüre ich beides: Angst und Vorfreude. Und ich nehme sie beide als gute Zeichen. Denn wo man beides fühlt, ist man lebendig.
Ein kleines Augenzwinkern zum Schluss
Manche sagen, mit 68 solle man es sich gemütlich machen. Ich finde, man sollte sich verständlich machen. Vielleicht ist das mein eigentliches Ziel: nicht ankommen, sondern verstanden werden – von anderen, von mir selbst, vielleicht auch vom Leben.
Nachklang
Vielleicht ist Reife kein Zustand, sondern eine Bewegung –
zwischen Halt und Weite, zwischen Ich und Wir,
zwischen dem Ort, den man verlässt, und dem, der einen erwartet.
English version below
Hold and Space – Why I’m Setting Out Once More
Sometimes I think my life has been one long journey – not only through countries, but through inner landscapes. Every path has led me to the same crossroads: the need for grounding and the longing for freedom. I once believed that age would quiet one and soften the other. Instead, both have grown stronger. Perhaps maturity doesn’t mean rest, but walking with awareness.
From Clown to Social Worker – and Back to Myself
In recent months I’ve written about clowning and school social work. At first glance, two very different worlds – yet both deal with the same question: How do we stay alive in the face of our contradictions?
The clown fails, but with dignity.
The social worker endures without judging.
Both embody what Peter Fonagy calls a “mentalizing attitude”: the courage to think another person’s thoughts without losing your own center.
It’s no coincidence that these themes draw me in. They mirror my own question: How can I stay in resonance with the world when everything around me grows louder, faster, and more disconnected?
Why I’m Moving to Nepal at 68
People often ask why, at my age, I would emigrate once more. I tell them: maybe because I finally want to arrive.
Here in northern Germany, my life is orderly, reasonable, safe – and yet I sense a growing silence that isn’t peace, but estrangement. Conversations become more factual, days more calculated, faces more guarded. Everything is there – and yet the one thing missing is resonance.
Nepal did not appear as an escape, but as an answer.
There, where life is less regulated but closer to the human heart, I felt a different kind of stability – one born not of control, but of connection. Perhaps that’s what draws me: the sense that people hold one another, not that systems hold them up.
On Attachment and Mentalization
Bowlby might say: I seek attachment. Fonagy would add: I seek someone who can think my thoughts.
Both express the same longing – to be understood. We need that from infancy to old age.
In Germany, we are world champions of thinking, but not of understanding. We explain much and listen little. We build structures, but forget the spaces between souls. Perhaps that’s why Nepal appeals to me: there, community isn’t a concept, it’s a way of survival.
Once you’ve seen people live with little possession but great warmth, you realize: safety isn’t the same as belonging. Sometimes you have to let go – to be held.
Between I and We
I wonder if we in the West suffer from a quiet kind of poverty: an overemphasis on the self. We polish our individuality, yet forget how to be together. We celebrate freedom, but overlook that freedom without connection turns into loneliness.
Perhaps my decision to move to Nepal is also a silent critique of that imbalance – not a moral stance, but a biographical consequence. I don’t want what’s “better,” I want what’s whole: the experience that we only truly meet ourselves through the eyes of another.
A Homeland That Forms on the Way
In an earlier post I wrote: “Home is the one that lives within me.”
Today I’d add: Home is where the I can respond to a We. That may be the red thread running through my later years – the search for a belonging that isn’t found on maps, but in conversation, in a glance, in shared laughter.
When I think of the steps ahead – giving up my home, moving abroad, living with others – I feel both fear and anticipation. I take both as good signs. Where you feel both, you are alive.
A Little Wink at the End
Some say that at sixty-eight one should settle down. I think one should become understood. Maybe that’s my real goal: not simply to arrive, but to be understood – by others, by myself, and perhaps by life itself.
Afterword
Maybe maturity isn’t a state, but a movement –
between grounding and openness, between I and We,
between the place you leave and the one that awaits you.