Wenn ein Teenager dein Herz öffnet
Heute Morgen war ich tief berührt. Ein junger Freund aus Kathmandu, 18 Jahre alt, sagte in einem TikTok mehr als mancher Psychologe.
„Yeah, everything is fine, but nothing feels fine“ – „Alles ist in Ordnung, aber nichts fühlt sich so an.“
So beginnt Pyush Paudel, Schüler und Nachwuchs-Poet, sein kurzes Video. Er spricht über die Menschen, die Gefühle anderer für falsch erklären, nur weil sie sie selbst nicht kennen. „At least don’t make it hard for them by claiming what they feel is abnormal.“ Ich kenne Pyush persönlich. Vielleicht rührte mich sein Video deshalb so. Vielleicht auch, weil ich im Laufe meines Lebens immer mehr Menschen begegnet bin, die meine Gefühle ernst nehmen, mir zuhören, ohne sofort zu urteilen. So habe ich Vertrauen gefasst – zu mir und zu meinen Empfindungen. Ich bin nicht falsch. Ich bin richtig.
Zuhören lernen
Kurz zuvor las ich in Das Trauma in dir von Bessel van der Kolk (2015, Kösel-Verlag) eine Szene, die mich tief traf: Eine Patientin vertraut ihrem Psychiater ihre Gefühle an. Er antwortet: „Sie sollten nicht so fühlen.“ Darauf sie: „Ich bin seit Jahren bei Ihnen, weil ich Ihnen vertraue – und Sie sagen mir, ich soll so nicht fühlen. Aber ich fühle so.“
Seitdem halte ich inne, wenn mir jemand sein Innerstes zeigt. Ich höre zu, statt gleich zu raten, zu deuten oder zu trösten.
Mentalisierung in einem Satz
Psychologen nennen das Mentalisierung: die Fähigkeit, sich in das Denken und Fühlen anderer hineinzuversetzen – und zugleich das eigene Erleben zu begreifen. Im Alltag heißt das: Wir fragen, bevor wir urteilen. Wenn ein Freund sagt: „Ich habe Angst, meinen Chef um einen Tag frei zu bitten“, dann hilft keine Antwort wie „Ach, das ist doch nichts.“ Besser ist: „Wovor hast du Angst?“ Das schafft Raum – und Vertrauen.
Hermeneutik fürs Herz
Die Philosophie nennt das Hermeneutik: das Verstehen der Bedeutung hinter den Worten. Sie lehrt uns, nicht zu korrigieren, sondern zu deuten. So wie wir ein Gedicht lesen, ohne den Dichter zu verbessern, können wir Menschen lesen, ohne sie zu belehren. Das bedeutet nicht, jedes Gefühl gutzuheißen – aber jedes ernst zu nehmen. Gefühle sind nie falsch. Handlungen dagegen brauchen Verantwortung.
Humor als Ventil
Gefühle sind keine Dressurhunde. Sie kommen, wann sie wollen, und machen es sich mitten im Wohnzimmer bequem. Ich ertappe mich manchmal, wie ich innerlich die Augen verdrehe, wenn jemand klagt – und dann lache ich über mich selbst. Dieses kleine Lächeln öffnet den Raum, den der andere braucht.
Brücke über Kontinente
Vielleicht bewegt mich Pyushs Stimme so sehr, weil sie aus einer anderen Welt kommt – und doch meine Welt berührt. Ein junger Nepali mit Smartphone und ein alter Deutscher mit Büchern entdecken dasselbe: Gefühle sind universell. Sie verlangen keine Zustimmung, nur Verständnis.
Zum Mitnehmen
- Hör zu, bevor du rätst.
- Frag: Was fühlst du gerade?
- Spiegle, was du verstanden hast.
Zuerst zuhören. Dann verstehen.
English version below
When a Teenager Opens Your Heart
This morning I was deeply moved. A young friend from Kathmandu, only eighteen, said more in a TikTok video than many psychologists do in an entire book.
“Yeah, everything is fine, but nothing feels fine.”
That’s how Pyush Paudel – a high school student and aspiring poet – begins his short clip. He talks about people who call someone’s feelings wrong simply because they’ve never felt them themselves. “At least don’t make it hard for them by claiming what they feel is abnormal.” I know Pyush personally. Maybe that’s why his words touched me so deeply. Or maybe because, over the course of my life, I’ve met more and more people who take my feelings seriously, who listen without judging. Through them I’ve learned to trust – myself and my emotions. I’m not wrong. I’m right.
Learning to Listen
Not long before, I had read a passage in The Body Keeps the Score by Bessel van der Kolk that struck me just as deeply. A patient confides her feelings to her psychiatrist. He replies, “You shouldn’t feel that way.” She answers, “I’ve trusted you for years, and now you tell me I shouldn’t feel what I feel. But I do feel that way.”
Since then, I pause whenever someone shares their inner world. I try to listen – not to fix, not to interpret, not to comfort too quickly.
Mentalization in One Sentence
Psychologists call this ability mentalization – the capacity to understand what someone else might be thinking or feeling, while staying aware of one’s own inner life. In practice, it means: ask before you judge. When a friend says, “I’m afraid to ask my boss for a day off,” a quick “Oh, that’s nothing” doesn’t help. Better to ask, “What are you afraid of?” That question opens space – and trust.
Hermeneutics of the Heart
Philosophers call it hermeneutics: the art of understanding meaning behind words. It teaches us not to correct but to interpret. Just as we read a poem without correcting the poet, we can read people without lecturing them. That doesn’t mean agreeing with every feeling, but taking each seriously. Feelings are never wrong. Actions, however, require responsibility.
Humor as a Valve
Feelings aren’t trained dogs. They show up unannounced and make themselves comfortable right in the middle of the living room. I sometimes catch myself rolling my eyes when someone complains – and then I laugh at myself. That small laugh opens the space the other person needs.
A Bridge Across Continents
Perhaps Pyush’s voice moves me so much because it comes from another world and yet touches my own. A young Nepali with a smartphone and an older German with books discover the same truth: feelings are universal. They don’t ask for approval, only understanding.
Takeaway
- Listen before you advise.
- Ask: What are you feeling right now?
- Mirror back what you’ve understood.
First listen. Then understand.
English version below
Stimme am Schluss: Pyush Paudel (TikTok)
Zum Nachklingen zwei kurze Zitatblöcke aus Pyushs öffentlichem TikTok – zuerst das Original, danach meine klare deutsche Übertragung.
Original (English)
“Yeah, everything is fine, but nothing feels fine.”
And the words came off my mouth on a random Wednesday night, which was odd, coming from someone who had always been a believer of, if you don’t know what’s wrong, nothing is wrong.
I’ve seen people feeling heavy but not knowing why, which was senseless to me until I had to wear the shoe on my own.
Here’s my take on it: in life, when you meet people, when you know them and when you understand being a human, you have to accept anything others may have gone through, and you cannot just call them wrong because you’ve not felt what they have or because it’s not a situation you’ve been a part of.
It is still just too valuable for them, they still feel bad, they’re more confused than you are and in comparison to you, they have to go through it, which you do not.
At the very least, don’t make it hard for them by claiming what they feel is abnormal.
Feelings are never abnormal, there’s a reason you feel every weird feeling you do.
They’re what makes us human of our own kind; something that could be wrong for you could be the right decision they could have made, and vice versa. So remember, suggestions, advice and comfort texts are merely a game of perspectives; everyone will tell you what they could have done if they were in your place, which in reality, nobody knows if they would have either.
Nobody will ever know what’s right for you, but you know the power you hold on yourself.
But yes, there will be exceptions, it’s life after all.
Übertragung (Deutsch)
„Ja, alles ist in Ordnung – aber nichts fühlt sich so an.“
Diese Worte kamen mir an einem zufälligen Mittwochabend über die Lippen. Seltsam – denn lange glaubte ich: Wenn du nicht weißt, was nicht stimmt, ist nichts falsch.
Ich habe Menschen gesehen, die sich schwer fühlten, ohne zu wissen warum. Das ergab für mich keinen Sinn – bis ich selbst in ihren Schuhen steckte.
Mein Punkt ist: Wenn wir Menschen begegnen, wenn wir sie kennen lernen und begreifen, was Menschsein heißt, müssen wir annehmen, was sie erlebt haben. Wir dürfen ihre Gefühle nicht für falsch erklären, nur weil wir sie selbst nicht fühlen oder nicht in ihrer Lage waren.
Für sie ist es wichtig. Sie fühlen sich schlecht, sie sind verwirrter als du – und im Unterschied zu dir müssen sie da durch.
Zumindest: Mach es ihnen nicht schwerer, indem du behauptest, ihr Gefühl sei unnormal.
Gefühle sind nie unnormal. Es gibt einen Grund für jedes merkwürdige Gefühl, das du hast.
Gefühle machen uns zu Menschen. Was für dich falsch wirkt, kann für sie die richtige Entscheidung sein – und umgekehrt. Darum: Ratschläge und Trosttexte sind nur Perspektiven. Jeder sagt, was er an deiner Stelle tun würde – aber in Wahrheit weiß niemand, ob er es wirklich täte.
Niemand weiß, was für dich richtig ist. Aber du kennst die Kraft, die du in dir trägst.
Und ja: Es gibt Ausnahmen. So ist das Leben.
Hinweis: Das Original stammt aus einem öffentlich zugänglichen TikTok von Pyush Paudel; Wiedergabe mit freundlicher Bezugnahme.