Zwischen Veda und Verfassung – Nepals Suche nach einem Gleichgewicht
Verfassungen erzählen Geschichten. Die deutsche Verfassung sagt: Nie wieder Diktatur.
Die nepalesische Verfassung sagt: Niemand darf über alle anderen herrschen.
Nepal ist kein Land mit einer Sprache, einer Religion oder einem Volk.
Es ist ein Mosaik: über hundert Ethnien, ebenso viele Sprachen, ein Dutzend religiöse Traditionen, Berge, Terai, Kathmandu. Vielfalt ist der Normalzustand. Wer Nepal mit dem Modell des Einheitsstaates misst, missversteht es.
Diese Einsicht ist nicht neu. Sie steht schon in den alten vedischen Texten.
Sie nennen die Welt Ṛta: eine Ordnung, die nicht durch Gleichmachung entsteht, sondern durch Gleichgewicht. Alles hat Platz, solange die Beziehungen stimmen.
Vielfalt als Grundsatz
Die Verfassung von 2015 erkennt diese Vielfalt an.
Sie sagt nicht: „Alle sollen gleich werden.“
Sie sagt: „Alle sollen ihren Platz haben.“
Darum teilt sie Macht auf:
- zwischen Bund, Provinzen und Gemeinden,
- zwischen Männern und Frauen,
- zwischen Mehrheiten und Minderheiten.
Föderalismus ist hier kein Import aus dem Westen.
Er passt zur Struktur der Gesellschaft, die seit Jahrhunderten lokal verankert ist.
Gerechtigkeit als Ausgleich
Gerechtigkeit heißt in diesem Verständnis nicht: alle bekommen das Gleiche.
Es heißt: jede Gruppe bekommt den Raum, den sie braucht.
Darum gibt es Quoten für Dalit, Janajati, Madhesi und Frauen.
Das ist kein Almosen, sondern Korrektur einer alten Schieflage.
Die Veden nennen dieses Ausgleichen Nyāya – eine angemessene Ordnung.
Ein Beispiel:
Im Terai richtet eine Gemeinde Unterricht in Tharu ein.
Nicht als Sonderregel, sondern als Normalität.
Sprache ist Teil der Würde.
Säkularität als Schutz, nicht als Trennung
„Säkular“ heißt in Nepal: Der Staat bleibt neutral.
Er schützt Religion, aber bevorzugt keine.
Das entspricht dem vedischen Verständnis von Dharma: Ordnung als Beziehung, nicht als Befehl.
Natürlich gibt es Spannungen. Nepal verbietet missionarische Konversion. Kuhschutz hat politischen Symbolwert. Manche Gruppen fühlen sich weiterhin benachteiligt.
Die Verfassung gibt ein Ziel vor – der Weg dorthin ist Arbeit.
Die Monarchie und der Verlust der Legitimität
Die großen Hindu-Epen zeigen: Ein König herrscht nur, solange er gerecht regiert.
Als die nepalesische Monarchie 2005 die Macht an sich zog, verlor sie diese Legitimität.
2006 erhob sich die Bevölkerung, 2008 endete die Königsherrschaft.
Die Verfassung ersetzt also nicht Tradition durch Bruch, sondern Herrschaft durch geteilte Verantwortung.
Woran sich das Gleichgewicht entscheidet
Ob die Verfassung trägt, zeigt sich nicht in Reden, sondern im Alltag:
- Werden Ressourcen fair verteilt?
- Lernen Kinder in ihrer Muttersprache?
- Haben lokale Gemeinden echte Entscheidungsmacht?
- Kommen Minderheiten vor Gericht zu ihrem Recht?
Daran misst sich Nepal.
Schluss
Nepals Verfassung ist kein bloßes Rechtsdokument.
Sie ist der Versuch, Vielfalt zu halten, ohne sie zu ersticken.
Sie baut politische Ordnung aus einem alten Gedanken:
Einheit entsteht nicht durch Gleichheit.
Einheit entsteht durch Gleichgewicht.
English version below
Between Veda and Constitution – Nepal’s Search for Balance
Constitutions tell stories. The German constitution says: Never again dictatorship.
The Nepali constitution says: No one may rule over everyone else.
Nepal is not a country of one language, one religion, or one people.
It is a mosaic: more than a hundred ethnic groups, over a hundred languages, many spiritual traditions, mountains, lowlands, and the Kathmandu Valley. Diversity is the norm. Anyone who looks for unity by uniformity misreads Nepal.
This insight is old. It appears already in the Vedic texts.
They describe the world as Ṛta: an order based not on sameness but on balance. Everything has its place when relationships are in equilibrium.
Diversity as a Principle
The 2015 constitution acknowledges this diversity.
It does not say, “Everyone must become the same.”
It says, “Everyone must have a place.”
So it distributes power:
- between federal, provincial, and local governments,
- between women and men,
- between majorities and minorities.
This federal structure is not borrowed from the West.
It fits a society that has always been rooted in local communities.
Justice as Balance
Justice here does not mean that everyone receives the same.
It means that each group receives the space it needs.
Hence quotas for Dalit, Janajati, Madhesi, and women.
Not charity, but a correction of historical imbalance.
The Vedic term for this balancing is Nyāya — fairness as proportion.
An example:
In the Terai, a municipality introduces Tharu-language classes.
Not as an exception, but as a normal expression of dignity.
Sekularism as Protection, Not Separation
In Nepal, secular means: the state stays neutral.
It protects all religions, but privileges none.
This reflects the Vedic idea of Dharma: order as relationship.
Of course, tensions remain. Proselytizing is restricted; cow protection holds symbolic weight. Some communities still feel excluded.
The constitution sets the direction — the work is ongoing.
The Monarchy and the Question of Legitimacy
The great Hindu epics teach: a king rules only while he rules justly.
When the monarchy concentrated power in 2005, it lost legitimacy.
In 2006, people rose up. In 2008, the monarchy ended.
The constitution replaces not tradition, but centralized authority.
Where Balance Is Tested
The constitution will be measured not by speeches, but by daily life:
- Are resources shared fairly?
- Do children learn in their mother tongue?
- Do local communities make real decisions?
- Do minorities find justice in court?
This is where Nepal proves itself.
Conclusion
The Nepali constitution is not simply a legal text.
It is an attempt to preserve diversity without suppressing it.
It builds political order from an old idea:
Unity does not come from sameness.
Unity comes from balance.