Ein Monat in Nepal – Lernen von Chaos und Gemeinschaft

Heute markiert den vierwöchigen Meilenstein meiner Ankunft in Nepal. Vieles hat sich seither verändert – vor allem meine Sicht auf das Leben und die Bedeutung von Gemeinschaft. Yeshi hat ihre Schulzeugnisse erhalten und bereitet sich nun auf das College vor. Für mich war dieser erste Monat eine intensive Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen Deutschland und Nepal, aber auch mit meinen eigenen Denk- und Verhaltensmustern. Ich hielt mich stets für weltoffen, unabhängig vom westlichen Wohlstand. Doch die gestrige Busfahrt zeigte mir, wie tief kulturelle Prägungen in uns verwurzelt sind.

Thamel: Das pulsierende Herz von Kathmandu

Der Tag begann in der Hello Kids Academy, einer Montessori-Schule, die von Lachen und Lernfreude erfüllt ist. Am Nachmittag führte unser Weg nach Thamel – ein quirliges Viertel, das Touristen wie ein Magnet anzieht. Enge Gassen, gesäumt von bunten Läden und Marktständen, formen ein lebendiges Mosaik. Händler bieten Schmuck, Pashmina-Schals und Gewürze an. Straßenmusik, das Klappern von Fahrradrikschas und das Gemurmel der Passanten verschmelzen zu einer Symphonie des Lebens.

Durbar Square – zwischen Tradition und Moderne

Inmitten dieser Geschäftigkeit hielten wir inne und beobachteten die Händler, die mit geübter Gelassenheit ihre Ware feilboten. Kein hektisches Drängen, kein lautes Feilschen, sondern ein harmonischer Fluss. Ich dachte an die Märkte in Deutschland – durchorganisiert, geregelt, manchmal fast steril. Hier hingegen scheint der Markt das Herz der Stadt zu sein, ein Ort des Austauschs und der Begegnung.

Abenteuer am White Tower

Gegen 19:30 Uhr verließen wir Thamel und machten uns auf den Weg zum „White Tower“, einem zentralen Verkehrsknotenpunkt. Am Abend verwandelt sich die Umgebung in einen lebhaften Nachtmarkt. Straßenhändler breiten ihre Waren aus: Obst, warme Snacks, bunte Stoffe. In diesem Menschengewimmel reihten sich unzählige Kleinbusse aneinander, bereit, die Pendler nach Hause zu bringen. Die Conductors riefen die Namen der Haltestellen in einem unverständlichen Singsang durcheinander. Ohne Yeshi wäre ich hier verloren gewesen.

White Tower (rechts) neben Ncell-Gebäude (Mobilfunk)

„Woher wusstest du, dass dieser Bus nach Budhanilkantha fährt?“, fragte ich sie neugierig.
„Bekannte Gesichter. Ich habe den Conductor schon oft gesehen“, antwortete sie mit einem Lächeln.

Wir stiegen ein. Der Bus, ein Toyota Hiace, bot offiziell 16 Sitzplätze. Doch das war nur Theorie. Kaum hatten wir uns hingesetzt, füllte sich der Wagen rasch. An jeder Haltestelle drängten weitere Fahrgäste hinein. Bald war auch der Stehbereich völlig überfüllt. Ein Mann setzte sich auf die schmale Kante neben Yeshi, während jemand mit seinem Rucksack meinen Kopf streifte. Ein anderer stemmte sich ungewollt gegen meine Kamera. Es war chaotisch, laut und beengend.

Die Lektion des Abends: Solidarität

Und doch geschah etwas Erstaunliches: Niemand beschwerte sich. Stattdessen halfen die Menschen einander, rückten enger zusammen und machten Platz, wo eigentlich keiner mehr war. Es war eine stille Übereinkunft, die mich beeindruckte. In Deutschland wäre ein solcher Bus längst als „überfüllt“ deklariert worden. Fahrgäste, die nicht mehr einsteigen können, müssten auf den nächsten warten. Hier in Nepal zählt nicht der Komfort, sondern das Mitgefühl. Niemand wird zurückgelassen.

Als wir endlich unseren Halt erreichten und aus dem Bus stolperten, war ich erschöpft. Yeshi schmunzelte: „Wenn du mürrisch bist, siehst du nicht gut aus.“
Ich hatte auf mehr Verständnis gehofft. Doch sie fuhr fort: „Wir waren glücklich, dass wir noch einen Bus erwischt haben. Um diese Zeit wollen alle nach Hause. Wir haben lange für diese Busse gekämpft. Jetzt sind sie da – das ist Grund zur Freude.“

Sie hatte recht. Für wenige Rupien – umgerechnet kaum mehr als 20 Cent – können die Menschen quer durch die Stadt reisen. Die gemeinsame Erfahrung, sich in den Bus zu quetschen und die Fahrt irgendwie durchzustehen, schien hier Teil des Alltagsrituals zu sein. Jeder wusste um die Bedeutung dieses Dienstes. Niemand klagte, niemand forderte. Man arrangierte sich und war dankbar.

„White Tower“ – nach dem Erdbeben 2015 neu errichtet

Ein Blick auf das eigene Denken

Dieser Abend ließ mich nachdenklich zurück. In Deutschland betrachten wir öffentliche Verkehrsmittel als selbstverständliche Dienstleistung. Wir erwarten Effizienz, Pünktlichkeit und Komfort. Und doch fehlt uns etwas: die Fähigkeit, einander im Alltag spontan zu unterstützen.

Ich sitze jetzt auf der Terrasse meines kleinen Hauses am Rande Kathmandus. Die Sonne scheint warm auf mein Gesicht, doch ich weiß, dass die Temperaturen bald auf 7°C fallen werden. Dicke Decken aus Deutschland halten mich nachts warm.

In Norddeutschland ist das Wetter derzeit trüb und kalt. Die Menschen dort haben sich an diese Dunkelheit gewöhnt, ebenso wie sie sich an ein Leben in strukturiertem Wohlstand gewöhnt haben. Doch hier in Nepal, wo die Sonne täglich scheint und die Menschen trotz knapper Ressourcen eng verbunden sind, erlebe ich eine andere Art von Lebensqualität.

Ich dachte immer, ich sei weltoffen und könnte das „Ich“ nicht denken, sondern nur das „Wir“. Doch dieser Abend im Bus hat mich eines Besseren belehrt. In einer Welt, in der Ressourcen begrenzt sind, ist Solidarität der wahre Reichtum. Und das ist vielleicht die wichtigste Lektion, die ich in diesen vier Wochen gelernt habe.