Wiedersehen

Heute Morgen frühstücke ich allein im großen Speisesaal des Hotels. Obst, Omelette, Toast, Butter und Marmelade. Mein Frühstück der letzten 12 Tage hier in Indien und genug für den Tag. Abends freue ich mich über Salat und etwas Käse, Fisch oder Fleisch.

Auf dem Weg zurück zum Zimmer sehe von weitem Shweta und Marco. Sie und ihre 350 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind angekommen. Der Zug aus Pune hatte nach 16 Stunden Fahrtzeit 30 Minuten Verspätung. Wir begrüßen uns herzlich. Ich hätte mich nicht verändert. Sie sich auch nicht. Wann haben wir uns zuletzt gesehen? War es vor sieben Jahren? Wir einigen uns auf 2015 und ignorieren Shwetas Besuch bei uns zuhause in Krempe. Im nächsten Moment steht Ninad neben mir, umarmt mich so herzlich, wie kaum ein Inder mich je umarmt hat. Ich ringe um Fassung. „Es bedeutet mir so viel, dass Du hier bist“, sagt er.

Piush und Pankash begrüßen mich. Am Aufzug spricht mich Krish an. Ihn habe ich nicht wiedererkannt.

Ich solle doch mit zum Frühstück kommen, meint Shweta. Vorher gehe ich noch kurz in mein Zimmer.

Zurück im Speisesaal holt mich Shweta an den Tisch ihrer Familie. Stellt mir Marcos Schwester und ihren Mann vor. Marco macht ein Foto von Shweta, Shwetas Mutter und mir. Shweta verabschiedet sich. Sie kenne die allermeisten Mitarbeiter ihrer Firma noch gar nicht und will mit ihnen sprechen. Während der Pandemie seien sehr viele Mitarbeiter hinzugekommen, einige wenige gegangen. Nur haben während der Pandemie alle im Homeoffice gearbeitet. Und sie, Shweta und Marco, sind zwischenzeitlich mit ihren Kindern in die Niederlande, Marcos Heimat, umgezogen.

Irgendwann sitzen Shwetas Mutter und ich alleine an dem großen runden Esstisch. Sie studiere Buddhismus und Jainismus. Seit sie 11 Jahre alt war, interessiere sie sich für Religionen und Philosophie. Damals konnte sie die Fächer nicht studieren. Heute hat sie Zeit dafür. Sie ist fünf Jahre älter als ich. Hellwach. Interessiert an allem in der Welt. Will alles verstehen.

Regelmäßig besucht sie ihre beiden Töchter und deren Familien in Hengelo und New York. Sie verbringt gerne viel Zeit mit ihren Enkeln.

Wir sprechen irgendwann über den Individualismus, einem westlichen Phänomen, das sich in den letzten Jahren immer stärker auch hier in Indien breit macht. Es sei nicht mehr selbstverständlich, dass sich Kinder um das Wohl ihrer Eltern kümmern. Jeder denkt nur noch an sich.

Einst haben sich Menschen über ihre familiären Beziehungen definiert. Jeder war sich seiner Rolle im Familienverband bewusst. Mit dem Aufbrechen familiärer Strukturen durch das Christentum hielt der Individualismus Einzug in unser Denken und Handeln, und Menschen definieren sich primär über ihre Funktionen, lautet Joseph Henrichs Theorie, Professor für Biologische Anthropologie und für Evolutionsbiologie des Menschen.

Ich bringe das Beispiel, wonach Menschen in der Wildnis nur überleben, wenn sie Menschen finden, die ihnen zeigen, wie man unter den gegebenen Umständen überlebt. Wir sind nunmal soziale Wesen und brauchen einander.

Es ist bereits Mittag als wir uns trennen. Ich gehe spazieren und ruhe mich aus. Um 17:30 Uhr beginnt die Diwali-Party. Hotelbedienstete stellen am Strand 50 Tische und 200 Stühle auf. Licht, Lautsprecher, Leinwand und eine Bar werden installiert.

Die Damen tragen prächtige Saris oder Abendkleider. Einige Herren Sakkos. Den Gästen werden Turbane gereicht. Ich werde an den Tisch mit Marcos Schwester und Ehemann gesetzt. Diesmal sind auffallend viele Gäste geladen. Fast alle aus Holland, aber auch eine russische Dame, die in Schweden für eine norwegische Firma arbeitet.

Ninad tritt auf. Er liebt die Show. Begrüßt alle und kündigt den ersten Beitrag an. Mitarbeiter singen und tanzen vor Publikum. Sie lieben es. Johlen, grölen, klatschen. Das Publikum liebt sie. Ob ich in diesem Jahr auch „performe“, will eine Sitznachbarin von mir wissen. Sie erinnert sich wohl an meinen Auftritt vor acht Jahren, als wir in Pune Diwali feierten. Nach diversen Auftritten wird die Tanzfläche freigegeben. Fast alle bewegen sich zu den Rhythmen. Anfangs sind die eher ungelenken Europäer leicht auszumachen, lassen sich aber bald schon von den kraftvollen Bewegungen der Inder anstecken und heben ihre Arme schwungvoll in die Höhe, zeichnen Kreise in die Luft, schwingen Lassos und reiten auf imaginierten Pferden über den Strand.

Punkt 22:00 Uhr ist Schluss. Ein paar letzte Bilder werden gemacht. Ich werde von Shwetas und Ninads Familie gleichermaßen vereinnahmt. „Du gehörst zur Familie.“

Zum Abschluss wartet das Restaurant noch mit einem Buffet auf uns. Kurz vor Mitternacht bin ich wieder auf meinem Zimmer, melde mich bei meiner Frau in Deutschland und schlafe ein.