Ranthambhore

Donnerstagnachmittag fahre ich von Jaipur nach Sawai Madhopur, einem Dorf am Rande des Ranthambhore Nationalparks. Drei Stunden später und 175 km südöstlich von Jaipur erreiche ich mein Ziel. Es ist schon dunkel, als ich am Ranthambhore Regency Hotel ankomme. Nach einem schnellen Abendessen gehe ich schlafen.

Freitagmorgen um 5:30 Uhr klingelt das Telefon: „Wake-up-call“. Der Muezzin ruft. Aufstehen. Fertigmachen. Um 6:15 Uhr treffe ich weitere Safari-Teilnehmer in der Hotellobby. Ein Kaffee. Ein Keks. Das muss reichen. Draußen wartet ein Maruti Suzuki Gypsy für die erste von fünf Safaris. Mit mir an Bord eine amerikanische Lehrerin, ihre indische Freundin, ein junger Mann aus New York, ein Fahrer und ein Guide.

Im November fallen die Nachttemperaturen schnell auf unter 10°C. Im offenen Jeep liegt die gefühlte Temperatur um einiges niedriger. Eine Fleecejacke, eine Fleecemütze und eine dicke Decke halten mich warm.

Axishirsche
Axishirsche

Der Ranthambhore Nationalpark erstreckt sich über ca. 280 km², was in etwa der Fläche der Mittelmeerinsel Malta entspricht. Ein Fünftel (56 km²) steht Touristen für Safari-Fahrten offen, wobei diese jeweils eine von 10 Zonen nutzen dürfen. Im Nationalpark leben über 70 bengalische Tiger. Die Jeeps haben im November von 7:00 Uhr bis 10:30 Uhr und zwischen 14:00 Uhr und 17:30 Uhr Zugang zum Park. Jede Exkursion dauert folglich dreieinhalb Stunden, plus An- und Abfahrt.

Um 7:00 Uhr erreichen wir die Einfahrt zur Zone 5. Vor einem kleinen Tempel fressen und amüsieren sich Bindenschweine (Wildschweine), Pfaue und Languren (Affen). Eisvögel sitzen auf einem Felsen in einem See. Am gegenüberliegenden Ufer entspannt sich ein Krokodil. Auf einer Lichtung grasen Axishirsche.

Languren und eines von vielen Bindeschweinen
Languren und eines von vielen Bindeschweinen

Hirsche und Languren warnen die Tiere im Wald vor Tigern und Leoparden. Sobald Axishirsche die Geruchsmarke einer Raubkatze aufnehmen oder einen Tiger oder Leoparden sehen, stoßen sie einen tiefen Ton aus. Affen hingegen kreischen nur bei Sichtung des Feindes, wobei sie von ihren Bäumen aus in die jeweilige Richtung schauen, in der sie den Tiger gesehen haben. Affen sind die Wächter des Waldes und die Freunde der Axishirsche. Fast immer sehe ich sie zusammen.

Warnrufe dienen unserem Guide zur Orientierung. Vernimmt er einen Alarmruf, weist er den Fahrer in die entsprechende Richtung. Warnrufe höre ich an diesem Morgen viele, nur sieht aus unserer Gruppe niemand einen Tiger.

Um kurz nach 11:00 Uhr sind wir wieder im Hotel. Ich frühstücke und ruhe mich kurz aus. Um 13:30 Uhr treffen wir uns zur nächsten Safari. Dann geht es in Zone 1. Wieder begegnen wir den Waldbewohnern, die wir auch morgens sahen. Ein Lippenbär sorgt für Abwechslung, kann aber trotz aller Erklärungen des Guides die Jeep-Insassen nicht so sehr fesseln, wie der ersehnte Tiger.

Morgenstimmung an einem See in Zone 5
Morgenstimmung an einem See in Zone 5

Kurz vor Ende der Tour sieht unser Guide etwas, was wir nicht sehen. Zuvor tönten Warnrufe durch den Wald. Im Sand hat eine Raubkatze Spuren hinterlassen. Der Guide deutet auf einen Graben im Dschungel. Alle stehen im Jeep, recken ihre Hälse, filmen und fotografieren mit ihren Smartphones. Swaroop, die heute Nachmittag im gleichen Jeep sitzt, nutzt ihr Teleobjektiv, kann aber das besagte Tier auch nicht sehen.

Eindeutig Raubkatzenspuren
Eindeutig Raubkatzenspuren

Dann endlich. Er bewegt sich – ein Leopard. Er kommt aus seiner Deckung, spurtet auf unseren Weg zu, quert ihn und rennt weiter ins Dickicht auf der anderen Seite. Lediglich ein Smartphone-Filmer hatte diesen Moment festhalten können. Unser Guide meint, dass dies eine sehr seltene Sichtung sei, da Leoparden äußerst scheu sind.

Die Sonne geht unter. Es wird kälter. Wir fahren zurück zum Hotel. Frieren. Essen zu Abend und gehen schlafen.

Samstag – zweiter Safari-Tag. Wieder Aufstehen um 5:30 Uhr. Treffen um 6:15 Uhr in der Lobby. Kaffee, Kekse. Die Zone 10 ist weiter entfernt. Zum Glück ist dieser Morgen etwas wärmer als der gestrige.

Nilgaiantilope (männl.)
Nilgaiantilope (männl.)

Gleich hinter der Einfahrt zu Zone 10 halten wir. Der Guide hatte gestern Abend genau hier einen Tiger gesehen. Vielleicht ist er noch in der Nähe. Wir warten einen Augenblick. Dann bringt uns der Jeep über sandige Wege hin zu Flüssen, über Hügel und durch Täler. Raubtierspuren überall. An einer Stelle sind die Affen in den Bäumen außer Rand und Band. Warnen was das Zeug hält. Axishirsche starren in die Richtung, in die auch die Affen schauen. Ganz offensichtlich sind Affen und Axishirsche beste Freunde. Die Affen kreischen. Gelegentlich ein Warnruf eines Hirschs. Wieder recken sich in unserem Jeep die Hälse. Smartphones filmen. Kameras werden bereit gemacht. Wir warten. Ich genieße die Ruhe. Freue mich über die Zusammenarbeit der Affenbande mit den Hirschen. Ruhe legt sich über die Szene.

Sambahirsch
Sambahirsch

Für einen Moment stelle ich mir vor, ich würde im Nationalpark leben und wäre auf die Kooperation mit Tieren angewiesen. Ich weiß, dass Tiger am frühen Morgen und am Nachmittag ihre Reviere ablaufen, die Warnrufe der Hirsche und Affen künden von seiner Nähe. Er muss hier irgendwo sein. Ich bin mittendrin in seinem Revier. Beobachte die Hirsche, Rehe, Wildschweine, Affen, Pfaue. Tiger wollen überleben, ihren Nachwuchs ernähren. Sie müssen Beute machen. Wer wird heute sein Leben lassen? Jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben. Ich verwerfe schnell den Gedanken.

Heute kann ich den Tiger spüren, nicht sehen. Wir sind ihm ganz nah, sagt der Guide. Er muss hier im Umkreis von 30, 40 Metern sein. Absolute Ruhe. Der Magen meines Sitznachbarn knurrt.

Kein Tier möchte die Aufmerksamkeit des Tigers auf sich ziehen und der Tiger möchte nicht, dass man ihn sieht. Also verhalten sich alle ganz ruhig. Hinter uns nähert sich ein weiterer Jeep. Der Fahrer schaltet den Motor aus. Die anderen Gäste plappern weiter. Unser Guide ermahnt auch sie zur Ruhe. Totenstille. Wir warten.

Lippenbär
Lippenbär

Der andere Jeep ist weitergefahren. Wir warten. Unser Guide ist sich sicher, dass der Tiger ganz in der Nähe ist. Die Minuten verstreichen. Die Schließzeit rückt näher.

Wir müssen zurück. Weitere Antilopen, Büffel, Rehe und Hirsche. Dann verlassen wir Zone 10 und fahren zurück zum Hotel.

Frühstück. Ausruhen. Um 12:30 ruft wieder der Muezzin. Im Hotel fragt jeder jeden, ob er oder sie einen Tiger gesehen hätte. Einige seien sich nicht so ganz sicher. Auch das kann es geben.

Ein indischer Fotograf sah einem Tiger direkt in die Augen. Er war in einer anderen Zone. „Er war so nah, dass meine Hände zitterten“, gesteht er. Trotzdem machte der junge Mann mit seinem Teleobjektiv ein fantastisches Bild vom Tiger mit weit aufgerissenem Maul.

Um 14:00 Uhr fahren wir zur Zone 6. Tigerspuren im Sand, aber keine Warnrufe. Es ist still. Dafür sehen wir aus nächster Nähe wieder Sambahirschen, Impalas, Indische Mungos, Nilgaiantilopen, Axishirsche und gleich drei Lippenbären. Die Inder nennen sie „Balu“. Einer der Lippenbären hatte in einem Baum Honig geschleckt.

Einen Tiger habe ich auch nach der vierten Safari-Fahrt nicht gesehen.

Eine Fahrt steht mir noch bevor.