Agra

Sonntag, 19:30 Uhr. Wir erreichen das Hotel. Das ursprünglich gebuchte Haus ist mit einer Hochzeitsgesellschaft überbucht. Daher erneut ein Hotelwechsel in letzter Minute.

Von der Dachterrasse des Restaurants sehe ich Fragmente des Taj Mahals, trotz Dunkelheit. Es ist nur 800 Meter vom Hotel entfernt. Ich gönne mir Lammcurry und Reis, gehe zurück ins Zimmer, lese Beiträge meiner Wochenzeitung online und schlafe ein.

Am nächsten Morgen warte ich vor dem Hotel auf den Guide. Zwei Damen mit hellweißer Haut und langen blonden Haaren kommen aus Richtung Taj Mahal. Sie haben sich indisch gekleidet und geschmückt. Ich muss zweimal hinschauen. Wahrscheinlich fotografierten sie sich in dieser Aufmachung mit strahlendem Lächeln und Nasenketten im Gesicht. Die schönsten Bilder vom Taj Mahal werden beim Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gemacht.

Mein Guide stellt sich mit Dinesh vor. Er eilt voraus, ich gemächlich hinterher. Mein linker Meniskus macht auf sich aufmerksam. Gelegentlich dreht sich Dinesh zu mir um, weist auf Sicherheitsvorschriften hin und zeigt auf den Schalter für Eintrittskarten. Er nimmt Eintritts-Chip und Quittung an sich, besorgt an einem anderen Schalter eine Flasche Wasser und Überzieher für Schuhe, drückt mir alles in die Hand und eilt voraus zum Ost-Tor. Mein Meniskus und ich hinterher.

Eingangstor zum Taj Mahal
Eingangstor zum Taj Mahal

Wir erreichen das Eingangstor zum Taj Mahal, aus rotem Sandstein mit marmornen Einlegearbeiten. Immer wieder bleibe ich stehen, lasse den Blick schweifen, beobachte die Menschen und atme die Szene tief ein. Das Eingangstor bietet einen Blick auf das vollständige Taj Mahal, das sich in einen Dunstschleier hüllt. Weißer Marmor in weißem Dunst. Die Baumeister hatten die Lage und die Größe des Eingangstors genau berechnet, um von ihm aus einen ungetrübten Blick auf das Mausoleum zu bieten.

Dinesh kennt die Punkte für die besten Fotos – Fotos, wie ich sie schon tausendfach gesehen habe und weshalb ich hier bin. Die Wege zum Taj Mahal führen durch einen Park mit Springbrunnen, Koniferen und Rasen.

Wieder schaue ich mir die Steinmetz- und Einlegearbeiten lange an und frage mich, wie es hier einst auf der Baustelle ausgesehen hat. Arabische Schriftzeichen und islamische Symbole, mit Diamanten geschnittener schwarzer Marmor, passgenau eingelassen in weißen Marmor. Rund 20.000 Arbeiter aus Afghanistan und Baumeister aus Persien schufen die Bauwerke zwischen 1631 und 1653, sagt Dinesh.

Links vom Taj Mahal steht eine Moschee, rechts von ihm ein baugleiches Gästehaus, das aber nicht mehr benutzt wird.

Blick vom Eingangstor auf das Taj Mahal
Blick vom Eingangstor auf das Taj Mahal

Zuerst besuche ich die Moschee. Wieder roter Sandstein mit weißem Marmor. Ich ziehe die Schuhe aus, wandele langsam über den Vorplatz und durch die Hallen und nehme kleinste Details in den Blick.

Danach gehen wir zum Eingang des Taj Mahal. Jetzt kommen die Plastiküberzieher für die Schuhe zum Einsatz. Dinesh weist darauf hin, dass die Grabmäler in einer Krypta unterhalb der Halle liegen, durch die ich gleich gehe. Die Krypta darf von Besuchern nicht betreten werden, daher sehe ich nur Replika. Das Grabmal von Mumtaz Mahal steht in der Mitte eines Innenraums, der von einer Jali-Schranke, einer Wand mit gitterartiger Struktur umgeben ist. Links daneben das etwas größere Grabmal von Shah Jahan. Mumtaz war Shahs Frau und große Liebe, so sagt man. Für sich hatte der Großmogul ein baugleiches Mausoleum vorgesehen, jedoch sollte es mit schwarzem Marmor verkleidet werden.

Taj Mahal
Taj Mahal

Dinesh hat sichtbar wenig Sinn für meinen Wunsch, die Umgebung auf mich wirken zu lassen. Er strebt dem Ausgang zu und schlägt den Besuch einer Kunstwerkstatt vor. Ich lehne ab. Er könne gehen, schlage ich ihm vor. Ich möchte noch eine Weile bleiben und schauen. Mit einem kleinen Trinkgeld in der Hand verabschiedet er sich von mir.

Hier am Taj Mahal wurde keine Geschichte geschrieben. Das Mausoleum markiert das Ende einer Liebe, oder was wir heute dafür halten wollen. So hatte Dinesh nur wenig zu erzählen.

Was hinter dem Taj Mahal steckt, erfahre ich eindrücklich beim Besuch des Fort Agra am späten Nachmittag. Es war der Sitz der Herrscher des Mogulen-Reichs. Die Mogulen kamen Anfang des 16. Jhd. aus der Gegend des heutigen Usbekistans und Afghanistans und besiegten das Sultanat von Delhi. Shah Jahan war der fünfte Mogulherrscher und regierte von 1627 bis 1658.

Im Fort Agra
Im Fort Agra

Ich vermute, dass Prinzessin Diana beim alleinigen Besuch des Taj Mahal um das Schicksal ihrer Leidensgenossin Mumtaz Mahal wusste. Wegen Charles hätte sie wahrscheinlich nicht so nachdenklich in die Kameras geschaut.

Mumtaz war die zweite Frau Shah Jahans und seine Hauptfrau. Bei ihrer Hochzeit war sie 19, er 20 Jahre jung. 19 Jahre währte das „Eheglück“. 1631 starb Mumtaz bei der Geburt ihres 14. Kindes (in Worten: vierzehn!!!).

Die wohlerzogenen Söhne des Großmoguls lieferten sich einen tödlichen Thronfolgestreit, der mit militärischen Mitteln ausgefochten wurde. Das sechste Kind aus der Ehe von Shah Jahan und Mumtaz Mahal, Aurangzeb, gewann den Streit. Zwei seiner Brüder und mit Ihnen viele Soldaten bezahlten mit ihrem Leben. Aurangzeb ließ seinen Vater gefangen nehmen und verhinderte so den Bau des schwarzen Taj Mahals. Mit 74 Jahren verstarb Shah Jahan. Sein etwas größeres Grabmal wurde links neben dem seiner Hauptfrau aufgestellt.

In der deutschen Wikipedia ist die Geschichte rund um Shah Jahan ausführlicher beschrieben.

Audienzhalle - hier hörten Minister und Großmogul die Anliegen der Landbevölkerung
Audienzhalle – hier hörten Minister und Großmogul die Anliegen der Landbevölkerung

Ich habe auf meiner Reise einige Burgen und Paläste gesehen. Egal ob Sandstein oder Marmor, es waren tote Steine. Leben kommt erst mit etwas Fantasie in die Gemäuer. Die islamischen Herrscher verschlossen ihre Gemächer mit bunten Teppichen und Vorhängen, im Sommer aus Seide, im Winter aus Wolle. Die Wände waren kunstvoll bemalt und mit Edelsteinen besetzt. Der König, Kaiser oder Mogul wurde am Tor mit Musik und Gesang empfangen, der durch alle Räume schallte. Überhaupt wurde viel musiziert und getanzt. Die Zugbrücken waren einst so groß, dass sie nur von Elefanten gehoben oder gesenkt werden konnten.

Engländer ersetzten Vorhänge durch schwere Türen, kratzten Gold und teilweise Edelsteine von den Wänden und stahlen so den Burgen ihren Zauber. Die Zugbrücken wurden ersetzt durch schlichte Metallgitter.

Moderne Paläste wurden für lokale Herrscher gebaut, die mit den Briten kooperierten. In Agra findet man keinen Stadtpalast. Dafür aber im Fort Agra das Grabmal des britischen Gouverneurs der Ost-Indien-Kompanie, John Russel Colvin. Zum Zeitpunkt seines Todes, 1857, rebellierten Teile der indischen Bevölkerung gegen die britischen Kolonialherren. Aus Angst vor Angriffen der Rebellen ließen die zahlenmäßig unterlegenen Briten das Grabmal im sicheren Fort Agra errichten.

Grabmal von John Russel Colvin
Grabmal von John Russel Colvin

Ich sitze im Auto auf dem Weg von Agra nach Delhi und frage mich, welches Indien ich auf meiner Reise gesehen habe? Das Indien der Portugiesen, Niederländer und Briten im Süden? Das Indien der Mogulen und Briten im Norden? Das Indien der Rajputen und Briten im Nordwesten? Das Indien der Bauern und Fischer in den Dörfern? Das Indien meines ersten Fahrers Sabu, der Flora und Fauna kannte, ein wachsames Auge auf mich warf und mich seit unserem Abschied täglich morgens und abends grüßt? Das Indien der Professorin für Religionsphilosophie, die weit kritischer als ich auf „die Inder“ blickt?

Es ist ein Volk, das seit dem Mittelalter von fremden Mächten beherrscht wurde. Die einen brachten Kultur ins Land, die anderen raubten es aus. Militärische Auseinandersetzungen bilden den roten Faden.

Während ich darüber nachdenke, fahren wir an Trabantenstädten mit Wohnsilos vorbei. Wir sind kurz vor Neu-Delhi, meiner letzte Station auf dieser Reise.