Reise zu Gott Keshav

Zuerst möchte ich Ninads Eltern mit Namen vorstellen: der Vater heißt Dhananjay und die Mutter Dhanashree. Ganz einfach. Und dann muss ich mich korrigieren, denn es war keineswegs Dhananjay, der in Goa auf dem Land aufwuchs, sondern dessen Urgroßvater. Auf jeden Fall war das Land, das wir heute besuchen, etwa von 1100 n. Chr. bis 1900 n. Chr. im Besitz der Familie Patki, und der Tempel wurde ursprünglich vor 1.000 Jahren gebaut. Das sagt zumindest der Priester, der sich heute um den Tempel kümmert. Aber alles der Reihe nach.

Dhananjay macht sich einen Spaß daraus, mit den Taxifahrern zu verhandeln. Gestern Abend noch lag das äußerste Angebot bei 3.000 Rupien (ca. € 37,50). Heute Morgen lässt sich ein junger Fahrer auf 2.300 Rupien (€ 28,75) ein. Dafür fährt er uns ca. 19 km Luftlinie ins Landesinnere. Mit dem Auto misst eine Strecke immerhin knappe 40 km und dauert etwas über eine Stunde.

Die Straße ist hervorragend. Von Schlaglöchern keine Spur. Es gibt sogar funktionierende Ampeln, und zum Leidwesen der Autoinsassen vor einigen Kreuzungen mächtige Bodenschwellen. Einmal hält uns Polizei an: allgemeine Verkehrskontrolle. Zum Glück hat unser Fahrer einen gültigen Führerschein. Die beiden Damen auf dem Motorroller, der uns auf unserer Fahrbahnseite entgegenkommt, werden wahrscheinlich länger mit den Polizisten verhandeln müssen. Die Fahrt geht weiter durch ein Land, wie ich es liebe. Grün, grün und nochmal grün. Gelegentlich gut erhaltene Wohnhäuser. Wir erreichen unser Ziel und kehren bei der Familie des Priesters ein.

2001 hatten Dhananjay und Dhanashree erstmals die Reise hierhin unternommen. Dhananjays Problem war da schon länger, dass er nicht wusste, wo sein Gott, also der Gott der Familie Patki wohnt. Sein Vater interessierte sich nicht dafür. Ein Cousin besuchte den Tempel regelmäßig und verriet ihm den Ort. Beim ersten Besuch brauchten Dhananjay und Dhananshree ganze anderthalb Stunden, bis sie am Ende einer engen Straße den kleinen Pfad zum Haus des Priesters fanden, den wir auch heute nehmen.

In diesem Haus wohnt der Priester, der sich um den Tempel kümmert. Ein Nebenjob. Nur an besonderen Festtagen sei er als Priester wirklich gefordert. Die restliche Zeit arbeitet er als Bauer.

Nachdem wir unsere Schuhe ausgezogen haben, betreten wir sein Haus. Sechs Personen wohnen hier: die Großmutter mit ihren beiden Söhnen und deren Frauen und ein Sohn vom Bruder des Priesters. Die Großmutter hat es sich auf einer Schaukel bequem gemacht. Zwei Katzen schauen sich die Besucher in aller Ruhe an.

Mit Dhananjay und dem Priester breche ich auf zum Tempel. Es geht durch eine Plantage. Im Hof sonnt sich ein Kälbchen. Etwas weiter erklärt mir der Priester die von ihm gebaute Biogasanlage. Selbstversorger. Der Behälter ist ganze 11 Fuß, also über 3 Meter tief. Beeindruckend. Ein Pfad führt durch eine dicht bewachsene Plantage, einen Garten Eden. Gelegentlich erklärt der Priester das Bewässerungssystem – kein Hightech aber robust.

Am Ende des Pfades stehen wir vor dem Tempel. Eigentlich sind es anderthalb Tempel, denn der 1.000 Jahre alte Tempel soll bald durch einen neuen ersetzt werden. Blau und gelb sind die dominierenden Farben. Der Priester entzündet ein paar Öllampen. „Das ist unser Gott“, sagt Dhananjay stolz.

Ob er hier beten würde, frage ich ihn. Nein, er verneige sich nur. Vor dem Beten müsse man sich waschen. Dafür fließt links vom Tempel sauberes Wasser durch ein Kunststoffrohr. Das Wasser kommt aus einer natürlichen Quelle weiter oberhalb. Dhananjay führt mir vor, wie man sich wäscht und fordert mich auf, es ihm gleichzutun. Ich freue mich über die Abkühlung.

Dann zeigt uns der Priester den Tempelneubau. Marmor dominiert hier. Ein Foto von der Stromverteilung sende ich an einen befreundeten Elektriker in Deutschland. Vielleicht mag er sich der Sache gelegentlich annehmen.

Ich frage mich, wie die Menschen all die Baumaterialien hierher transportieren. Daraufhin zeigt mir der Priester eine Konstruktion aus Bambusrohren, die bis zu einer Straße führen soll, über die dann sämtliche Materialen zur Baustelle rutschen.

Auf dem Rückweg gibt es wieder eine Lehrstunde in Sachen Kräuter und Gewürze. Ich probiere zwei von ihnen und wundere mich über die Vielfalt der Natur. Irgendwann muss irgendjemand mal auf die Idee gekommen sein, die Früchte der Natur zu probieren und mit ihnen ganze Speisen zuzubereiten.

Der Sohn des Bruders des Priesters begrüßt uns nach unserer Rückkehr. Er arbeitet als Softwareentwickler für Siemens. Die Programmiersprache ist Embedded C – eine Sprache für Mikrocontroller. Krasser kann der Kontrast zwischen dem Leben hier auf dem Land und der Arbeit an modernsten Maschinen nicht sein.

Am Abend unterhalten Dhananjay, Dhananshree und ich uns noch auf dem Balkon. Bis zur Unabhängigkeit Indiens 1947/1948 galt derjenige als Landbesitzer, der das Land bestellte. Wurde das Land mehr als ein Jahr lang nicht mehr bestellt, fiel es dem Staat zu und konnte an andere Bauern verteilt werden. Wenn ich es richtig verstanden habe, verließ Dhananjays Urgroßvater 1900 das Land, ging nach Bombay und gründete eine Fabrik für Gummi-Stempel. Wenig später wurde das Land 15 anderen Familien zugeteilt. Quasi kostenlos. 1947/1948 änderte sich die Situation und Grundbücher wurden eingeführt. Dhananjay nimmt es gelassen und hofft nur, dass er und sein Sohn weiterhin ungehindert Zugang zu seinem Gott haben.