Vom Fragen und Wachsen – Eine hermeneutische Rückschau auf acht Monate innerer Reise
Wenn ich heute, im Sommer 2025, auf die vergangenen acht Monate zurückblicke, sehe ich nicht nur Orte und Begegnungen, sondern vor allem ein feines Gewebe aus Gedanken, Gefühlen und inneren Verschiebungen. Es ist, als hätte ich eine lange Wanderung unternommen – nicht bloß über Kontinente, sondern durch das Gelände meines eigenen Selbst. Und diese Wanderung hat Spuren hinterlassen. Nicht die Fußabdrücke zählen, sondern die gedanklichen Schneisen, die sich durch mein Denken und Empfinden gefräst haben.
Ich schreibe dies, um zu verstehen – und vielleicht auch, um verstanden zu werden. Hermeneutik, das bedeutet für mich: Deutung aus Erfahrung. Nicht bloß erzählen, sondern den roten Faden im scheinbar Zufälligen aufspüren. Und dieser Faden, der sich durch meine Blogposts seit Oktober 2024 zieht, ist überraschend klar: Ich wollte leben, nicht nur funktionieren. Ich wollte fühlen, nicht nur beobachten. Ich wollte Mensch sein – mit anderen, für andere, aber vor allem mit mir selbst.
Der Moment des Aufbruchs
Rückblickend begann alles mit einem diffusen Unbehagen: zu viel Sicherheit, zu wenig Bewegung. Ich hatte Zeit, ja – aber keine Richtung. Der Entschluss, nach Zypern zu reisen, war der erste kleine Sprung aus dem Vertrauten. Dort begegnete ich Yeshi – und in ihrer Geschichte spiegelte sich mein eigener Aufbruch. Sie kämpfte um Würde in einer Welt, die sie kleinhalten wollte. Ich wiederum suchte nach Tiefe in einer Welt, die mich mit Oberflächen abspeiste.
Yeshi lehrte mich: Stärke hat viele Gesichter. Ihre Entschlossenheit, ihre Zärtlichkeit gegenüber sich selbst, ihre Fähigkeit, Hoffnung aus Mangel zu gewinnen – all das hat mich zutiefst berührt. Und vielleicht war das der erste leise Wendepunkt: Ich merkte, dass ich nicht bloß Beobachter sein wollte. Ich wollte Teil der Geschichten werden, die ich bisher nur beschrieben hatte.
Der Ruf nach Nepal
Zurück in Deutschland fiel ich in ein mentales Vakuum. Die graue Trägheit norddeutscher Wintertage kontrastierte schmerzhaft mit der Lebendigkeit, die ich in Zypern gespürt hatte. Es war, als hätte ich etwas gekostet, das mir fortan fehlte: Authentizität. Wärme. Resonanz. Und so reifte in mir ein Entschluss, der weniger rational als existenziell war: Ich wollte nach Nepal – nicht als Tourist, sondern als Lernender.
Was ich dort fand, war mehr als eine andere Welt. Es war eine andere Weise, Welt zu sein. Die Menschen, denen ich begegnete, hatten wenig – aber sie waren nicht arm. Sie lebten im Bewusstsein, dass der Einzelne nur durch das Ganze Sinn findet. Gemeinschaft war dort keine Option, sondern Voraussetzung für Würde und Überleben. Inmitten von Staub, Lärm und Improvisation fand ich eine Art Ordnung: eine ethische, keine organisatorische.
Zwischen den Kulturen – und in mir selbst
Kathmandu war laut, chaotisch, unlogisch. Und gleichzeitig heilsam. Ich verlor dort manches – Gewissheiten, Routinen, vielleicht auch einen Teil meines alten Selbstbildes. Aber ich gewann etwas, das ich nicht gesucht, wohl aber gebraucht hatte: Demut. Und Dankbarkeit für das Unscheinbare.
Ich erinnerte mich in Nepal daran, was es bedeutet, einfach da zu sein – nicht als Funktionsträger, nicht als Projektleiter des eigenen Lebens, sondern als fühlendes Wesen inmitten anderer fühlender Wesen. Es waren oft die kleinen Gesten – ein Lächeln, eine Tasse Tee, ein Blick –, die mir zeigten, wie wenig es braucht, um verbunden zu sein.
Diese Zeit hat in mir ein existenzielles Paradox freigelegt: Ich bin individueller denn je geworden – und zugleich durchlässiger für das, was andere bewegt. Mein Ich hat Grenzen gezogen, um sie dann fließend zu überschreiten. Ich bin nicht aufgelöst im Wir, aber auch nicht mehr abgeschlossen im Ich.
Fragen, die bleiben – und tragen
Vieles von dem, was ich in diesen Monaten gedacht, gesehen und gefühlt habe, ist in meinen Blogposts dokumentiert. Aber mehr noch als Antworten habe ich dort Fragen gesammelt. Fragen, die mich wachsen ließen:
- Was bedeutet es, echt zu sein – jenseits der Rollenerwartungen?
- Wie gelingt Nähe ohne Besitzanspruch?
- Warum glauben wir so oft, Recht haben zu müssen – statt einfach zu verstehen?
- Wie viel Dopamin braucht ein erfülltes Leben – und wann beginnt das große Vergessen?
Diese Fragen sind für mich keine akademischen Fingerübungen, sondern Werkzeuge der Selbsterkenntnis. Ich habe gelernt, dass Fragen kein Mangel sind, sondern ein Zeichen von Lebendigkeit. Solange ich frage, lebe ich. Und solange ich lebe, kann ich mich verändern.
Eine persönliche Lehre
Ich behaupte seit jeher, dass ich ein starker Mensch bin. Und ja – ich glaube, das stimmt. Aber Stärke hat für mich ein neues Gesicht bekommen. Sie ist leiser geworden. Weniger demonstrativ. Mehr Bereitschaft, zu fühlen, was weh tut. Mehr Mut, nicht alles im Griff zu haben. Mehr Vertrauen, dass sich Dinge fügen, wenn man ihnen Raum lässt.
Ich bin – das spüre ich heute – mental gewachsen wie nie zuvor in meinem Leben. Nicht trotz der Unsicherheiten, sondern wegen ihnen. Nicht durch Planen, sondern durch Loslassen. Nicht, weil ich ein Ziel erreicht hätte, sondern weil ich unterwegs geblieben bin.
Ausblick – oder einfach: Weitergehen
Was bleibt von diesen acht Monaten? Kein Fazit im herkömmlichen Sinne. Eher ein inneres Klima. Ich spüre mehr Weite in mir. Und weniger Angst vor dem Ungewissen. Ich weiß jetzt, dass ich meinem Herzen trauen kann – nicht weil es immer recht hat, sondern weil es ehrlich schlägt.
Vielleicht ist das die Lehre, die ich mitnehmen darf – und die ich auch meinen Leserinnen und Lesern anbieten möchte: Leben heißt nicht, sich festzulegen, sondern sich einzulassen. Auf Begegnungen, auf Wandel, auf das Fremde in uns selbst. Und auf die tiefe Wahrheit, dass wir nie allein sind – wenn wir es wagen, wirklich da zu sein.
English version below
On Asking and Growing – A Hermeneutic Reflection on Eight Months of Inner Journey
Looking back from the summer of 2025, the past eight months weren’t just filled with places and encounters – they wove a delicate pattern of thoughts, feelings, and subtle shifts inside me. It feels like I’ve been on a long journey – not just across continents, but through the landscape of my own being. The traces it left are not footprints, but the paths carved into my understanding of self and world.
I write this to make sense of it all – and maybe, to offer something meaningful to others. Hermeneutics, to me, means interpreting experience. Not just telling stories, but uncovering the thread that ties them together. And this thread, winding through my blog posts since October 2024, has become strikingly clear: I wanted to live, not just function. I wanted to feel, not just observe. I wanted to be human – with others, for others, and most importantly, with myself.
The Moment I Set Out
It began with a vague unease – too much safety, not enough motion. I had time, yes, but no direction. Deciding to travel to Cyprus was my first small leap beyond the familiar. There I met Yeshi – and in her story, I saw my own reflected. She fought for dignity in a world that tried to shrink her. I searched for depth in a world obsessed with surfaces.
Yeshi taught me that strength comes in many forms. Her resolve, her self-compassion, her ability to pull hope from scarcity – all of it deeply moved me. That was perhaps the first quiet turning point: I realized I didn’t want to be just an observer anymore. I wanted to be part of the stories I was telling.
The Call to Nepal
Back in Germany, I felt adrift. The grey stillness of northern winter days clashed with the vitality I had just experienced. It felt like something essential was missing – authenticity, warmth, resonance. So a new decision formed, less rational than existential: I would go to Nepal. Not as a tourist, but as a learner.
What I found there was not just another world – but another way of being in the world. The people I met had little, but they weren’t poor. They lived with the knowledge that individual meaning comes only through connection. Community wasn’t optional – it was essential. Amid dust, noise and improvisation, I encountered something like order: ethical, not organizational.
Between Cultures – and Within Myself
Kathmandu was noisy, chaotic, illogical. And healing. I lost a few things there – certainties, routines, perhaps even parts of my old self-image. But I gained something I hadn’t been looking for, though I clearly needed it: humility. And gratitude for the quiet things.
Nepal reminded me what it means to simply be – not as a role, not as a manager of my life, but as a feeling being among other feeling beings. Often, it was the small gestures – a smile, a cup of tea, a glance – that reminded me how little it takes to feel connected.
That time opened an existential paradox in me: I became more individual than ever – and at the same time, more open to others. My self gained boundaries, only to let them blur again. I wasn’t dissolved in the collective, but no longer sealed off in solitude either.
Questions That Stay – and Sustain
Much of what I thought, saw, and felt during this time is documented in my blog posts. But more than answers, I collected questions – and those are what helped me grow:
- What does it mean to be real, beyond the roles we perform?
- How do we create closeness without control?
- Why are we so afraid of being wrong, instead of simply understanding each other?
- How much dopamine does a fulfilling life need – and when does forgetting begin?
These aren’t academic puzzles to me, but tools for self-discovery. I’ve learned that asking isn’t weakness – it’s life in motion. As long as I’m asking, I’m alive. And as long as I’m alive, I can grow.
A Personal Lesson
I’ve always seen myself as a strong person. And I still believe that’s true. But strength now has a different face: it speaks more softly. It means feeling what hurts. It means letting go of control. It means trusting that things will unfold when I give them space to breathe.
I can say, without exaggeration, that I’ve grown more mentally in these months than at any other time in my life. Not despite uncertainty, but because of it. Not through planning, but through surrender. Not because I reached a goal, but because I kept moving.
Looking Forward – or Simply Moving On
What remains of these months? Not a classic conclusion. More like an internal climate. I feel more spacious now. Less afraid of the unknown. I know I can trust my heart – not because it’s always right, but because it beats honestly.
Perhaps that’s the one lesson I take with me – and offer to anyone reading this: Life isn’t about fixing our path. It’s about joining the journey. Welcoming encounters. Embracing change. Exploring the unfamiliar within us. And trusting that we’re never truly alone – if we’re willing to be fully present.