Aufbruch nach Nepal – Eine Reise zu den Geschichten, die uns prägen

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In wenigen Tagen, am 4. Januar, beginnt meine Reise nach Nepal. Über Dubai werde ich nach Kathmandu fliegen, wo ich bis zum 3. April bleiben werde. Der Anlass ist ein Versprechen: ich hatte meiner nepalesischen Patentochter zugesagt, sie auf ihrer Rückkehr von Zypern in ihre Heimat zu begleiten. Was uns verbindet, ist nicht nur der Buddhismus, insbesondere die Lehren des Dzogchen, sondern auch eine lebenslange Suche nach der eigenen Identität.

Die Geschichten, die wir erzählen – und die wir verschweigen

Die Dzogchen-Lehre öffnete mir vor fast zwei Jahrzehnten die Augen für eine einfache, aber tiefgreifende Wahrheit: wir sehen die Welt nicht, wie sie ist. Unsere Wahrnehmung wird durch unser Bewusstsein gefiltert, interpretiert und bewertet. Diese Erkenntnis brachte Struktur in ein Leben, das von wechselnden Geschichten geprägt war – Geschichten, die andere mir über mich erzählten, und Geschichten, die ich mir selbst erzählen musste, um zu verstehen, wer ich bin.

Ich wurde unehelich geboren, wuchs zunächst in einem Waisenhaus auf und wurde später von meiner jungen Mutter und ihrem neuen Mann aufgenommen. Schon früh wurde mir klar, dass die Wahrheit ein wandelbares Konstrukt ist. Die Erzählungen über meine Herkunft änderten sich je nach Erzähler. Als ich schließlich mit 21 meinen leiblichen Vater traf, fügte sich ein weiteres Puzzlestück hinzu – oder zerbrach ein altes Bild. Diese wechselnden Geschichten lehrten mich früh, alles zu hinterfragen.

Doch diese Unsicherheiten haben einen Preis. Wenn zentrale Fakten verschwiegen werden, um eine soziale oder familiäre Erzählung intakt zu halten, bleibt bei den Betroffenen oft ein Gefühl des Fremdseins zurück. In meinem Fall ging das so weit, dass mir die Krankheit meiner ersten Tochter als „Strafe Gottes“ ausgelegt wurde – ein Urteil, das mich bis ins Mark traf. Geschichten, selbst wenn sie irrational erscheinen, haben immense Macht.

Geschichten aus dem Dschungel – und aus unserer „zivilisierten“ Welt

Während ich mich auf meine Reise vorbereite, denke ich an das Buch Dschungelkind von Sabine Kuegler. Sie beschreibt darin ihre Kindheit bei den Fayu, einem Stamm in West-Papua. Ihre Kultur basiert auf der Überzeugung, dass jeder Tod auf Gewalt oder einen Fluch zurückzuführen ist. Diese Denkweise führt zu einem endlosen Kreislauf von Blutrache und Gewalt.

Es ist leicht, diese Sichtweise als „primitiv“ abzustempeln. Aber wie sehr unterscheiden wir uns wirklich? Auch in unseren modernen Gesellschaften konstruieren wir Feindbilder, führen Kriege und suchen nach Schuldigen für das Leid, das uns widerfährt. Die menschliche Tendenz, einfache Geschichten zu erzählen, bleibt bestehen – ob im Dschungel oder in einem Konferenzraum.

Nepal und die Frage nach dem Karma

Nepal ist ein Land voller Widersprüche, geprägt von tief verwurzelten Traditionen, religiösen Überzeugungen und den Achttausendern. Meine Patentochter gehört der Kaste der Dalits an, der sogenannten „Unberührbaren“. Trotz ihrer buddhistischen Erziehung, die sie in einem Kloster erhielt, spürt sie die Last des hinduistischen Karmagedankens. Oft glaubt sie, dass ihre gesellschaftliche Stellung eine Folge schlechter Taten in einem früheren Leben sei.

Diese Denkweise mag uns fremd erscheinen, doch sie zeigt, wie stark gesellschaftliche Geschichten das Leben prägen. Es war ihr Wunsch, dass ich sie auf ihrer Rückkehr begleite – nicht nur als moralische Stütze, sondern auch als sichtbarer Schutz. In Nepal genießen Europäer hohes Ansehen, fast wie Götter. Diese Symbolik gibt ihr die Kraft, sich gegen Anfeindungen zu stellen.

Eine Reise zu mir selbst

Diese Reise nach Nepal ist mehr als ein geografischer Ortswechsel. Sie führt mich zurück zu den Lehren des Dzogchen und zu der Erkenntnis, dass unsere Wahrnehmung immer begrenzt ist. Nichts ist so, wie es scheint – weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart.

Vielleicht lässt sich mein Leben am besten so beschreiben: Es war eine lange Suche nach Wahrheit inmitten von Geschichten. Viele Menschen empfinden es als unangenehm, wenn alte Erzählungen hinterfragt werden, weil sie die Stabilität ihrer eigenen Wahrheiten gefährden. Doch für mich war das Hinterfragen immer eine Notwendigkeit, ein Überlebenstrieb.

Wenn ich an meine Patentochter denke, sehe ich eine Frau, die sich trotz der erdrückenden Last ihrer Kultur für eine neue Perspektive entschieden hat. Ihre Stärke inspiriert mich, und sie erinnert mich daran, dass wir die Macht haben, unsere Geschichten neu zu schreiben – ohne Angst vor Verlust oder Verurteilung.

Vielleicht ist das der wahre Kern meiner Reise: nicht nur Nepal neu zu entdecken, sondern auch die Freiheit, die in der Erkenntnis liegt, dass wir weder gut noch schlecht sind – sondern einfach Menschen, die die Welt durch ihre eigenen, einzigartigen Augen betrachten.


Departure for Nepal – A journey to the stories that shape us

In a few days, on 4 January, my journey to Nepal begins. I will fly via Dubai to Kathmandu, where I will stay until 3 April. The occasion is a promise: I had promised my Nepalese goddaughter that I would accompany her on her return from Cyprus to her home country. What connects us is not only Buddhism, especially the teachings of Dzogchen, but also a lifelong search for our own identity.

The stories we tell – and the ones we keep quiet

Almost two decades ago, the Dzogchen teachings opened my eyes to a simple but profound truth: we do not see the world as it is. Our perception is filtered, interpreted and evaluated by our consciousness. This realisation brought structure to a life that was characterised by changing stories – stories that others told me about myself and stories that I had to tell myself in order to understand who I am.

I was born out of wedlock, grew up in an orphanage and was later taken in by my young mother and her new husband. I realised early on that truth is a mutable construct. The stories about my origins changed depending on the narrator. When I finally met my biological father at the age of 21, another piece of the puzzle was added – or an old picture was broken. These changing stories taught me early on to question everything.

But these uncertainties come at a price. When key facts are concealed in order to keep a social or family narrative intact, those affected are often left with a feeling of alienation. In my case, this went so far that my first daughter’s illness was interpreted as „God’s punishment“ – a judgement that struck me to the core. Stories, even if they seem irrational, have immense power.

Stories from the jungle – and from our „civilised“ world

As I prepare for my journey, I think of the book Dschungelkind by Sabine Kuegler. In it, she describes her childhood among the Fayu, a tribe in West Papua. Their culture is based on the belief that every death is due to violence or a curse. This way of thinking leads to an endless cycle of blood revenge and violence.

It is easy to label this view as „primitive“. But how different are we really? Even in our modern societies, we construct enemy stereotypes, wage wars and look for people to blame for the suffering that befalls us. The human tendency to tell simple stories persists – whether in the jungle or in a conference room.

Nepal and the question of karma

Nepal is a country full of contradictions, characterised by deeply rooted traditions, religious beliefs and the eight-thousand-metre peaks. My goddaughter belongs to the Dalit caste, the so-called „untouchables“. Despite her Buddhist upbringing, which she received in a monastery, she feels the burden of the Hindu idea of karma. She often believes that her social position is a consequence of bad deeds in a previous life.

This way of thinking may seem strange to us, but it shows how strongly social stories characterise life. It was her wish that I accompany her on her return – not only as moral support, but also as visible protection. In Nepal, Europeans are held in high esteem, almost like gods. This symbolism gives her the strength to stand up to hostility.

A journey to myself

This trip to Nepal is more than just a geographical change of location. It takes me back to the teachings of Dzogchen and to the realisation that our perception is always limited. Nothing is as it seems – neither in the past nor in the present.

Perhaps this is the best way to describe my life: It has been a long search for truth amidst stories. Many people find it uncomfortable when old narratives are questioned because they jeopardise the stability of their own truths. But for me, questioning has always been a necessity, a survival instinct.

When I think of my goddaughter, I see a woman who has chosen a new perspective despite the crushing weight of her culture. Her strength inspires me, and she reminds me that we have the power to rewrite our stories – without fear of loss or judgement.

Perhaps this is the true essence of my journey: to rediscover not only Nepal, but also the freedom that lies in recognising that we are neither good nor bad – but simply people looking at the world through our own unique eyes.