Die erste Woche – Einblick in zwei Welten
Vor genau einer Woche landeten wir in Kathmandu. Am Flughafen wurden wir von Yeshis Familie und Freundinnen mit Blumen, tibetischen Willkommen-Schals und strahlenden Gesichtern begrüßt. Für Yeshi war es eine emotionale Rückkehr, für mich der Beginn einer Reise, die uns beide verändern könnte.
Yeshi – eine Geschichte von Mut und Hoffnung
Yeshi wuchs in einem kleinen Dorf in Nepal auf, in einer Familie, die als Dalits – Angehörige der niedrigsten Kaste – jahrhundertelanger Diskriminierung ausgesetzt war. Mit 11 Jahren kam sie in eine buddhistische Klosterschule, wo sie trotz harter Umstände ihren Abschluss machte. Doch ein schmerzliches Erlebnis prägte sie nachhaltig: Ihr Vater hatte sie mit einer falschen Identität angemeldet, um ihre Kaste zu verschleiern. Als das aufflog, zerriss ein Beamter vor ihren Augen ihr Zeugnis. Für Yeshi, die bis dahin geglaubt hatte, mit Bildung ihrem Schicksal zu entkommen, war es ein traumatischer Moment.
Später arbeitete sie als Erzieherin in einem Montessori-Kindergarten. Doch das Einkommen reichte kaum, um ihre Familie zu unterstützen. Wie viele junge Nepales:innen entschied sie sich, nach Zypern zu gehen, um als Hausangestellte zu arbeiten. Dort traf ich sie im Oktober 2024 wieder und erlebte eine völlig andere Yeshi: traurig, bedrückt, fast depressiv. Die Freude, die sie früher ausstrahlte, war wie ausgelöscht. Ihre Arbeit in einer fremden Familie, fernab von allem Vertrauten, hatte sie ausgelaugt.
Doch die Rückkehr nach Nepal hat etwas in ihr verändert. Hier ist sie wieder die Yeshi, die ich kenne: fröhlich, voller Energie, immer lachend, von morgens bis abends. Sie hat Spaß am Leben, scherzt mit ihren Freundinnen, und ihre Sorgen scheinen für den Moment in den Hintergrund gerückt zu sein. Gleichzeitig ist sie sehr besorgt um mein Wohlergehen, sorgt dafür, dass ich mich in dieser für mich fremden Welt zurechtfinde und mich gut fühle. Diese Veränderung ist für mich wie ein kleines Wunder – ein Zeugnis dafür, wie sehr Heimat und die Nähe zu Familie und Freunden die Seele heilen können.
Eine unerwartete Begegnung in den Bergen
Am Montag unternahmen wir einen Ausflug in die Berge des Shivapuri-Nationalparks. Die klare Luft und die atemberaubende Aussicht auf das Kathmandu-Tal machten die anstrengende Wanderung mehr als wett. Unterwegs trafen wir ein junges Mädchen in Schuluniform. Sie saß auf einem Stein am Wegesrand und ruhte sich aus, bevor sie ihren steilen Heimweg fortsetzte. Yeshi sprach sie an, und das Mädchen lud uns spontan ein, sie nach Hause zu begleiten.
Ihr Zuhause lag am Hang mit einem fantastischen Blick über das Tal. Die Mutter war gerade dabei, Wäsche zu waschen und zum Trocknen aufzuhängen. Sie lebt hier mit ihren beiden Töchtern und bewirtschaftet allein das Haus und den Garten, während ihr Mann seit Jahren im Ausland arbeitet. Drei Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Dennoch sprach sie mit Stolz und Optimismus über ihr Leben und träumte davon, eines Tages mit ihrem Mann ein friedliches Leben in ihrem Haus zu führen, wenn die Kinder einmal aus dem Haus sind.
„Hier kennt jeder jeden“, erzählte sie und zeigte auf die umliegenden Häuser. „Wir sind alle eine große Familie.“ Ihre Zufriedenheit mit den einfachsten Dingen beeindruckte mich zutiefst. Es war eine Lektion in Demut, in der Akzeptanz dessen, was das Leben bringt, und im Glauben an eine bessere Zukunft.
Zwei Welten – eine Begegnung
Während ich in einem modernen Hotel in Budhanilkantha wohne – mit Swimmingpool, Frühstücksbuffet und all den Annehmlichkeiten, die für westliche Reisende selbstverständlich sind – lebt Yeshis Familie in einem einzigen Raum. 20 Quadratmeter, auf denen gekocht, geschlafen und gelebt wird. Die Tür steht stets offen, Nachbarn kommen und gehen.
Anfangs empfand ich dieses Kommen und Gehen als charmant, fast idyllisch. Doch spätestens, als ich nach einem langen Tag auf einem der beiden Betten lag und neugierige Blicke durchs Fenster drangen, wurde mir klar, wie sehr diese Menschen auf engstem Raum auf Gemeinschaft angewiesen sind – und wie wenig Raum für Privatsphäre bleibt.
Gastfreundschaft ist hier keine Option, sie ist ein Teil des Lebens. Als wir am Samstagabend in einem tibetischen Restaurant aßen, bestellten wir große Portionen für die ganze Familie. Der Preis? Umgerechnet 7,80 Euro. Yeshi erzählte, dass sie sich solch ein Essen früher maximal einmal im Monat leisten konnte. Und dennoch empfand ich in dieser bescheidenen Umgebung keinen Mangel, sondern eine Wärme, die ich aus meinem eigenen Land kaum kenne.
Heimat und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit
Ein Freund fragte mich kürzlich, wie ich mich in meiner „zweiten Heimat“ fühle. Heimat. Ein großes Wort. Für Yeshi ist Nepal Heimat – trotz aller Schwierigkeiten, trotz der gesellschaftlichen Zwänge. Für mich, der in einer materiell gesicherten, aber oft anonymen Gesellschaft aufgewachsen ist, ist Heimat weniger greifbar. Heimat ist dort, wo wir uns verstanden fühlen, wo unser Herz Ruhe findet.
Doch während ich über „Heimat“ nachdenke, kommen mir die Flüchtlinge in den Sinn, die ich in Deutschland und auch auf Zypern kennengelernt habe. Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, um in einem fremden Land ein besseres Leben zu suchen – oft unter gefährlichen Bedingungen. Sie fliehen vor Krieg, Armut, Diskriminierung oder Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Überschwemmungen, Dürren. Doch die Fremde bietet selten das ersehnte Glück. Heimat ist nicht ersetzbar. Sie ist nicht nur ein Ort, sondern eine Wurzel, die tief in uns allen steckt.
Ich frage mich, ob wir im Westen uns wirklich bewusst sind, was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen. Für Menschen wie Yeshi war es keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit. Und dennoch: Die Rückkehr zeigt, dass die Bindung an die Heimat – trotz aller Widrigkeiten – nicht zerbrochen ist.
Ein Blick nach vorne
Heute Nachmittag werden wir eine weitere Familie besuchen. Yeshi hofft, von ihnen hilfreiche Tipps zu erhalten. Die Familie gehört der gleichen Kaste an und lebt in einem eigenen Haus. Besonders die Frau scheint über genügend Selbstwertgefühl und wirtschaftliche Stärke zu verfügen, um sich in dieser Gesellschaft zu behaupten. Vielleicht kann sie Yeshi bei der Suche nach einer Wohnung helfen – eine mit getrennten Schlafzimmern, Küche und Bad. Doch das ist keine leichte Aufgabe, denn Dalits haben es auf dem Wohnungsmarkt schwer. Viele Vermieter zögern, an Dalits zu vermieten, es sei denn, jemand bürgt persönlich für sie.
Trotz aller Herausforderungen bleibt Yeshi optimistisch. Ihre Energie, ihre Fröhlichkeit und ihr Mut sind beeindruckend. Und auch ich bin gespannt, welche neuen Begegnungen und Erfahrungen uns in den kommenden Tagen erwarten.
Bild: Herzliche Begrüßung im Montessori-Kindergarten