Die Macht der Sprache: Ein Werkzeug der Evolution
Diese Woche machte mich ein Freund auf ein Interview mit Steven Pinker aufmerksam, einem renommierten Kognitionswissenschaftler, der den „Sprachinstinkt“ untersucht. In seinem gleichnamigen Buch beschreibt Pinker umfassend, dass Sprache nicht nur ein kulturelles Artefakt ist, sondern tief in unserer Biologie verankert. Er vertritt die Theorie, dass sich der Sprachinstinkt im Laufe der Evolution entwickelt hat und uns ermöglicht, komplexe Gedanken auszudrücken. Diese Vorstellung beeindruckt mich und lässt mich die Natur erneut bewundern: Sie hat uns ein mächtiges Werkzeug gegeben, mit dem wir uns über Raum und Zeit hinweg verständigen können.
Wir können heute lesen, was Menschen vor Jahrtausenden niedergeschrieben haben, und in den Köpfen anderer Bilder und Ideen entstehen lassen, die weit von unseren eigenen Erfahrungen entfernt sind. Sprache erlaubt es uns, Geschichten zu erzählen und uns miteinander zu verbinden. Doch Sprache ist mehr als nur eine Kommunikationsmethode – sie ist ein Instinkt, der von der Kultur geprägt wird. So wie unsere Umgebung unsere Instinkte beeinflusst, formt auch die Kultur, in der wir leben, die Geschichten, die wir erzählen.
Der Sprachinstinkt ist eine universelle Fähigkeit, die durch unsere Umwelt moduliert wird. In Regionen mit diffusem Licht und rauem Klima spiegeln sich diese Bedingungen oft in der Kunst und den Geschichten wider, die Menschen dort schaffen – düstere, nachdenkliche Werke, die die Härte des Lebens widerspiegeln. In Gegenden, die von Krieg und Gewalt geprägt sind, erzählen Menschen Geschichten von Zerstörung, Verlust, aber auch von Überleben, Auferstehung und Hoffnung auf Gerechtigkeit. Man denke an die jüdisch-christlichen Traditionen, deren Ursprung in den Konflikten des Nahen Ostens liegt und die durch die Zerstörung Jerusalems durch die Römer nachhaltig geprägt wurden. Diese Geschichten von Flucht, Exil und Rettung leben in den heiligen Schriften dieser Religionen fort.
Welche Geschichten erzählen und lesen wir heute – in Deutschland, Österreich, der Schweiz? In Russland und der Ukraine, wo der Krieg nicht nur physische Zerstörung verursacht, sondern auch die Erzählungen der Menschen verändert? In Israel, dem Libanon, dem Gazastreifen, Syrien und dem Sudan, wo Generationen in einem endlosen Zyklus von Gewalt und Trauer aufwachsen? Diese Geschichten prägen sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft dieser Regionen.
Sprache ist ein mächtiges Werkzeug, aber ihre Macht entfaltet sich erst in dem, was sie in uns bewirken kann – sie kann Hoffnung erzeugen, aber auch Angst schüren. Was lesen wir? Was hören wir? Es macht einen enormen Unterschied, welche Geschichten wir in uns aufnehmen. Das bringt mich zu einem Vergleich, der mir in letzter Zeit häufig durch den Kopf geht: Der Unterschied zwischen künstlicher Intelligenz, wie ChatGPT, und uns Menschen. Während Modelle wie ChatGPT nur auf statistischer Basis Wörter aneinanderreihen, können wir aus nackten Informationen etwas Lebendiges schaffen: Bilder und Geschichten, die Emotionen wecken, Sinn stiften und unsere Wahrnehmung der Welt formen.
Doch in unserer modernen, digitalen Welt verschiebt sich die Art und Weise, wie wir kommunizieren und Geschichten erzählen. Oft sind es nur kurze Nachrichten, Tweets oder Posts, die über Bildschirme flimmern und die Bedeutung von Sprache verkürzen. Das führt uns zu einer zentralen Frage: Wie wirkt sich diese digitale Form der Kommunikation auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, aus? Welche Bilder setzen wir in die Welt, und was machen sie mit uns?
Einmal in die Welt gesetzte Bilder können wir nicht zurücknehmen. Sie sind da, gespeichert in den unermesslichen Weiten unserer 100 Milliarden Neuronen, bereit, irgendwann und irgendwo wieder aktiviert zu werden. Deshalb ist es entscheidend, sich der Verantwortung bewusst zu sein, die mit dem Erzählen, Hören und Lesen von Geschichten und dem Gebrauch der Sprache einhergeht.
Ich wünsche mir, dass sich jeder in der Schule der Macht der Sprache bewusst wird. Denn erst dann bekommen alle anderen Fakten einen Sinn, wenn sie Teil einer hoffnungsvollen, konstruktiven Geschichte sind. Nur dann kann Sprache das sein, was sie im besten Fall ist: Ein Werkzeug, das uns miteinander verbindet und eine Brücke in eine bessere Zukunft schlägt.
Bild: J. Beckmerhagen – 2020 aufgenommen im Stadtarchiv Itzehoe