Entdeckungstour in Seester: Die St. Johanniskirche und ihre Geschichten
Dienstagvormittag. Ich treffe mich mit Frau Kruse in Seester. Sie leitet den Kirchengemeinderat und wird mir die St. Johanniskirche aufschließen.
Die Kirche thront auf einer Wurth, einer Anhöhe, die einst vor Hochwasser von Elbe, Pinnau und Krückau schützte. Sie wird von 17 majestätischen Linden umgeben, die unter Denkmalschutz stehen und alle zwei Jahre aufwendig gepflegt werden müssen.
Ich klopfe an die Tür des Pfarrbüros. Drei freundliche Gemeindemitglieder begrüßen mich herzlich. Sie arbeiten ehrenamtlich und berichten, dass Seester kürzlich einem Pfarrsprengel beigetreten ist. Die Pfarrerin wohnt zwar noch neben der Kirche, ist aber nun auch in anderen Pfarreien tätig – ein Zeichen des Personalmangels.
Seester hat 1.000 Einwohner, das benachbarte Seestermühe 900. Die Dorfgemeinschaft ist eng, zumindest unter den Alteingesessenen. Es gibt auch ein Neubaugebiet, doch die Bewohner dort sind meist weniger an der Dorfgemeinschaft interessiert. Sie kommen hierher, weil die Grundstücke günstig sind und Seester noch immer eine heile Welt bietet.
Ich äußere die These, dass die Kirchen in früheren Zeiten die Gemeinschaft besonders in schweren Zeiten zusammengehalten haben, etwa nach den Sturmfluten. Deshalb errichtete man die Kirche auf einer kleinen Wurth. In Seestermühe zerstörte Hochwasser einst die Kirche, woraufhin die Seester Kirche vergrößert wurde.
Frau Kruse zeigt mir stolz den großen Schlüssel, mit dem sie gleich die Kirchentüren aufschließen wird. Den Schlüssel soll ich unbedingt fotografieren.
Wir gehen vom Pfarrbüro zur Kirche. Links und rechts säumen Grabsteine aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert unseren Weg. Ich frage nach dem Grabstein aus dem 16. Jahrhundert. Er ist in der Südostecke der Kirchenaußenwand eingemauert und erzählt die Geschichte von Maes Stahel, der dreimal verheiratet war und mit der ersten Frau zwei und mit der zweiten 19 Kinder zeugte. Die dritte Frau pflegte ihn bis zu seinem Tod. Frau Kruse zweifelt, ob es sich dabei immer um Liebesheiraten handelte. Ich entgegne, dass Liebe häufig mit den Jahren wächst.
Daraufhin öffnet sie eine der blau gestrichenen Holztüren. Mein Blick fällt zuerst auf die kniende Lazarusfigur mit den beiden Hunden. Darauf thront der „Armenblock“, in den Gläubige ihre Almosen für die Ärmsten der Armen werfen konnten. Schwedische Soldaten brachen während des Dreißigjährigen Kriegs (1618 – 1648) den Opferstock auf. Nach dem Krieg, etwa um 1654, ließ man den Armenblock reparieren und stellte ihn mit der Lazarusfigur und den Hunden, die die Wunden des Aussätzigen lecken, wieder auf.
Als Nächstes entdecke ich die barocke Kanzel und ihren Schalldeckel, der seit 1631 das Wort des Predigers für alle verständlich im Raum verteilt. Auf die Kanzel geschnitzt sind Matthäus mit Engel, Markus mit Löwen, Johannes mit Adler und Jesus als Weltenherrscher mit Reichsapfel. Zuhause lese ich, dass sich irgendwo auch der Evangelist Lukas mit Stier versteckt hielt.
Und dann sehe ich ihn endlich: den prächtigen barocken Altar, den Bauern der Kirche während des Dreißigjährigen Krieges spendeten. Er erhebt sich in mehreren Ebenen und zieht mit seinen lebhaften Farben und kunstvollen Schnitzereien sofort die Aufmerksamkeit auf sich.
Oben thront ein Kruzifix, das den gekreuzigten Christus darstellt, flankiert von zwei Figuren, die vermutlich Maria und Johannes symbolisieren. Darunter prangt ein goldener Schriftzug auf dunklem Grund mit den Worten „Frede nu ick leve nu dancket Godt“ („Friede nun, ich lebe, nun danket Gott“). Links davon steht Moses mit den 10 Geboten, rechts Martin Luther in seiner Rolle als Übersetzer der Bibel und Verfasser zahlreicher Schriften.
Darunter in goldenen Lettern in Niederdeutsch: „Anno 1631 hebben Jochim Bartels, Teies Schinkel, Dick Greve, Pawel Kelten, Hinrick Bartels, Harmen Schinkel, didt Altar der Kercken tom besten vorebbet.“ („Im Jahr 1631 haben Jochim Bartels, Teies Schinkel, Dick Greve, Pawel Kelten, Hinrick Bartels, Harmen Schinkel diesen Altar der Kirche zum Besten gespendet.“) Hauptsache, die Namen der edlen Spender waren groß und gut lesbar, da durften die drei letzten Worte ruhig mal „über den Rand“ hinausragen.
Im mittleren Bereich des Altars finden sich farbenprächtige Reliefs, die zentrale Szenen aus dem Leben Jesu darstellen: die Geburt Christi, das letzte Abendmahl, die schlafenden Jünger, den betenden Jesus am Ölberg, die Verurteilung durch Pilatus, den Kreuzweg sowie die Beisetzung.
Frau Kruse erklärt, dass der Altar lange Zeit demontiert in einer Abseite der Kirche lag und durch ein schlichtes Kreuz ersetzt wurde. Das machte man damals so. Zum Glück hatte niemand den Mut, den Altar fortzuschmeißen.
Besonders ehrwürdigen Mitgliedern der Gemeinde wollte man einst den Kirchenbesuch inmitten der einfachen Leute nicht zumuten, daher die Loge für die Grafen von Ahlefeldt und von Kielmansegg sowie weitere Hochwohlgeborene. Zuletzt schuf man für sie einen separaten Eingang, damit sie nicht mit den niedrigen Ständen in Berührung kommen. Andere Zeiten, andere Sitten.
Hinter dem Altar sieht man die Orgelpfeifen der alten Orgel. Diese bereitete zuletzt nur noch Probleme und konnte nicht mehr gespielt werden. 1968 installierte man auf einer Empore im hinteren Bereich der Kirche eine neue Orgel von Marcusson aus Apenrade. Diese Orgel ist besonders, da der Organist quasi zwischen den Orgelpfeifen sitzt. Die alte Orgel ist auch nicht mehr komplett. Mit den Jahren schenkte man honorigen Bürgern von Seester zu besonderen Anlässen einzelne Orgelpfeifen.
Die Decke der Kirche restaurierte man erst vor wenigen Jahren vollständig. Danach fiel der Pastorin erstmals an einem der Balken der Spruch aus Matthäus 11:28 auf: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch erquicken!“
Bevor wir die Kirche wieder verlassen, fällt mein Blick auf zwei Gedenktafeln. Eine setzte 1655 ein Vater für seine verstorbene Tochter, die andere erinnert an einen Pastor, der 1668 die heute noch läutende Glocke spendete.
Diese und eine kleinere Glocke hängen im freistehenden Glockenturm auf der Nordseite der Kirche. Die Konstruktion stammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts und ist in dieser Art eine Seltenheit. Frau Kruse vermutet, dass nur drei Kirchen in Schleswig-Holstein einen solchen freistehenden Glockenturm haben. Daher freuen sie sich, einen passionierten Handwerker gefunden zu haben, der sich seit Jahren mit der Sanierung solcher Glockentürme auskennt.
Heute besuche ich Seester zum zweiten Mal. Vergangenen Mittwoch war die Kirche verschlossen, und ich machte einen kleinen Spaziergang durch die Felder in Richtung Nordwesten, über die Seester Au und weiter über den Deich an der Krückau, vorbei an einem kleinen Sportboothafen und der kleinsten Fähre Deutschlands, „Kronsnest“, und zurück zur Kirche. Der Ort gefällt mir. Man spürt, dass sich die Menschen hier wohlfühlen und zusammenhalten. Wahrscheinlich verdanken sie diesen Zusammenhalt größtenteils der aktiven Kirchengemeinde.