Gemeinschaft: Eine Lektion aus Nepal und dem Blick auf den Mount Everest
In den letzten Tagen habe ich viel über Gemeinschaft nachgedacht. Was bedeutet es, Teil einer Gemeinschaft zu sein? Wie entsteht sie? Und warum ist sie so wichtig – besonders in Krisen? Meine Erfahrungen in Nepal und ein Gespräch mit meinem Freund aus Hamburg, der kürzlich eine Dokumentation über den Mount Everest gesehen hat, haben mir neue Einsichten gegeben.
Gemeinschaft: Wir schaffen sie selbst
Gemeinschaft ist kein Zustand, der einfach da ist. Sie entsteht nicht von Natur aus oder automatisch. Gemeinschaft muss aktiv geschaffen werden – durch unser Handeln, unsere Gedanken und die Entscheidungen, die wir täglich treffen.
Doch was bedeutet aktives Schaffen konkret? Es beginnt mit einfachen, alltäglichen Handlungen: Zuhören, füreinander da sein, teilen, Vertrauen aufbauen. Hier in Nepal sehe ich, wie Menschen ihre Gemeinschaft ganz praktisch gestalten. Familien teilen das Wenige, was sie haben – sei es Essen, Kleidung oder Zeit. Sie besuchen einander, tauschen sich aus und helfen, wo es nötig ist.
Ein Beispiel, das mich besonders berührt hat, ist das Verhalten von Yeshi und ihrer Familie. Als ich in Kathmandu ankam, wurde ich sofort in ihre Welt aufgenommen. Ihre Freunde und Verwandten begegneten mir mit Offenheit, trotz der sprachlichen und kulturellen Unterschiede. Diese kleinen Gesten – eine Einladung zum Tee, ein Lächeln, die Bereitschaft, mir bei alltäglichen Dingen wie Einkaufen oder Orientierung zu helfen – haben mir gezeigt, wie Gemeinschaft entsteht: durch bewusstes Engagement füreinander.
Gemeinschaft in Nepal: Geben und Nehmen
In Nepal ist Gemeinschaft oft eine Frage des Überlebens. Ohne soziale Netze kann das Leben hier schnell existenziell bedrohlich werden. Anders als in westlichen Ländern gibt es kaum staatliche Sicherungssysteme. Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter bedeuten, dass Familien und Nachbarn einspringen müssen.
Yeshi erzählte mir, dass sie als Erzieherin nur 20.000 Nepalesische Rupien im Monat verdiente – etwa 130 Euro. Krankheitstage wurden nicht bezahlt. Hätte sie nicht auf die Unterstützung ihrer Familie zählen können, hätte eine einzige Krankheit katastrophale Folgen gehabt.
Diese enge Abhängigkeit voneinander prägt die Menschen hier. Sie teilen, was sie haben, und helfen einander. Einmal erlebte ich, wie Yeshis Nachbarin, die selbst wenig besaß, uns ohne Zögern Gemüse aus ihrem kleinen Garten anbot. Diese Geste war nicht nur eine Hilfe, sondern auch eine Form von Verbindung, die das Vertrauen zwischen Menschen stärkt.
Gemeinschaft am Everest: Überleben durch Zusammenarbeit
Mein Freund aus Hamburg erzählte mir von einer Dokumentation über den Mount Everest. Sie zeigte, wie wichtig Gemeinschaft in Extremsituationen ist. Ohne die Sherpas, die als Träger, Führer und oft auch Retter agieren, könnten die meisten Bergsteiger den Gipfel nie erreichen.
Die Dokumentation machte aber auch deutlich, wie gefährlich es wird, wenn jemand glaubt, alles allein schaffen zu können. Ein Bergsteiger, der sich ohne seinen Sherpa und ohne ausreichende Ausrüstung nur von seinem Ehrgeiz getrieben auf die letzte Etappe machte, kehrte nicht zurück.
Diese Geschichte zeigt, dass Gemeinschaft nicht nur Komfort bietet, sondern in vielen Fällen lebensrettend ist. Sie erfordert jedoch auch Demut – die Einsicht, dass wir einander brauchen und aufeinander angewiesen sind.
Gemeinschaft im Westen: Was haben wir verloren?
In unserer westlichen Welt ist Gemeinschaft oft anders organisiert. Wir verlassen uns auf staatliche Institutionen und soziale Sicherungssysteme. Gleichzeitig feiern wir Individualität und persönliche Leistung. Doch dadurch geht etwas verloren: die gelebte Erfahrung, dass Gemeinschaft etwas ist, das wir aktiv gestalten müssen.
Ich denke oft an das Buch The Weirdest People in the World von Joseph Henrich. Darin beschreibt Henrich, wie die katholische Kirche im Mittelalter traditionelle Familienstrukturen aufbrach, um die Kontrolle über den Einzelnen zu stärken. Dieses Aufbrechen führte zu einer stärker individualisierten Gesellschaft, die uns heute Freiheit und Selbstbestimmung gibt – aber auch eine Isolation, die wir oft nicht wahrnehmen.
Herausforderungen beim Schaffen von Gemeinschaft
Gemeinschaft zu schaffen, klingt einfach, doch es bringt Herausforderungen mit sich. Missverständnisse, kulturelle Unterschiede oder die Angst, ausgenutzt zu werden, können Hürden darstellen. Ich habe das selbst erlebt, als ich anfing, Teil von Yeshis Gemeinschaft zu werden.
In meiner westlichen Denkweise sah ich Gemeinschaft oft als etwas Bedingtes: Ich helfe, wenn ich sicher bin, dass ich etwas zurückbekomme. Doch hier in Nepal wird Hilfe oft vorbehaltlos gegeben. Das hat mich zu Beginn überfordert. Gleichzeitig verstand ich erst später, warum Yeshi enttäuscht war, als ich ihre Familie 2018 finanziell nicht mehr unterstützte. Für sie war meine Unterstützung Teil der gelebten Gemeinschaft – für mich war sie eine freiwillige Geste.
Diese unterschiedlichen Perspektiven zeigen, dass Gemeinschaft nicht nur durch Nähe entsteht. Sie erfordert ein Verständnis füreinander und die Bereitschaft, sich auf neue Formen des Miteinanders einzulassen.
Gemeinschaft als bewusste Praxis
Mingyur Rinpoche lehrt, dass unser Bedürfnis nach Stabilität uns oft dazu verleitet, uns auf äußere Strukturen zu verlassen – ob staatliche Systeme, soziale Normen oder Traditionen. Doch diese Stabilität ist eine Illusion. Wahre Sicherheit entsteht, wenn wir Verantwortung übernehmen – für uns selbst und für die Menschen um uns herum.
Gemeinschaft ist keine abstrakte Idee. Sie entsteht durch bewusstes Handeln: ein Gespräch, ein Lächeln, ein Akt der Großzügigkeit. Es sind diese kleinen Dinge, die Vertrauen schaffen und Gemeinschaft wachsen lassen.
Fazit
Meine Zeit in Nepal lehrt mich, dass Gemeinschaft keine Selbstverständlichkeit ist. Sie ist ein Band, das wir täglich neu knüpfen müssen. In einer Welt, die oft Unsicherheit und Isolation schafft, können wir in der Gemeinschaft Stabilität finden – nicht als etwas Gegebenes, sondern als etwas, das wir selbst erschaffen.
Und vielleicht ist das die wichtigste Lektion: Gemeinschaft ist keine starre Struktur, sondern ein lebendiger Prozess. Sie entsteht durch unser Mitgefühl, unsere Offenheit und unsere Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – füreinander und für die Welt, die wir gemeinsam gestalten.