Heimat, Humor und Herzlichkeit: Der Abend mit Oliver Wnuk

Es ist 19:40 Uhr in Wenningstedt auf Sylt. Am Ende der Straße leuchtet die weiße Fassade des hell erstrahlenden Kursaals. Der Einlass begann um 19:30 Uhr. Kaum eine Menschenseele ist auf der Straße oder vor dem Gebäude zu sehen. „Wir sind die Ersten“, denke ich, doch als Dörte unsere Karten vorzeigt, eröffnet sich der Blick auf einen ausverkauften Saal. Wir müssen getrennt sitzen, Dörte weiter vorne, ich weiter hinten. Irgendwo ist immer ein einzelner Sitz frei, um Abstand zum Nachbarn zu wahren. Zuhause lese ich, dass der Saal maximal 400 Personen fasst. 

Endlich – um Punkt 20:00 Uhr betritt Oliver Wnuk (48) die Bühne. Sein Markenzeichen: krause Haare und ein Blick, der bei Männern und vor allem bei Frauen den Fürsorgeinstinkt weckt. Den Mann muss man einfach gern haben. Jeder, fast jeder kennt ihn aus der Krimireihe „Nord, Nord, Mord“, in der er seit 2010 den Kriminalkommissar Hinnerk Feldmann spielt – etwas verpeilt, verklemmt, laut sprechend, während er denkt. So auch heute Abend. Zumindest erwartet das Publikum ihn so. 

Und er spricht und liest. Er spricht über Gott und die Welt, über seine Zeit als Messdiener, der bei Beerdigungen immer der Erste war, den laute Weinkrämpfe schüttelten, seinen einstigen Berufswunsch, Papst zu werden, und über Onkel Günther, einst zölibatär lebender römisch-katholischer Priester und wenig später verheirateter Priester in einer altkatholischen Gemeinde. Wnuk spricht über Gewissensbisse, darüber, dass er immer noch denkt, dass der liebe Gott ihn am Ende womöglich doch noch in die Hölle schickt, obwohl er versichert, nicht mehr an ihn zu glauben. Aber ganz los wird er die katholische Prägung nicht. Schuldgefühle, ja – die machen ihm seit seinem Austritt aus der Kirche das Leben schwer. Aber nicht erst seit dem Kirchenaustritt. Einmal, mit 10 oder 11, kam er nach Hause, niemand öffnete ihm die Tür, er hatte riesigen Durst, und so schlich er sich in den Laden unten im Haus und versteckte – ungeschickt – eine Getränkedose unter seiner Jacke, wurde vom Filialleiter erwischt, ermahnt. Dieser schenkte Wnuk 50 Pfennige, um die Getränkedose zu bezahlen, und ließ ihn gehen. Aus lauter Angst machte sich Wnuk in die Hose.

Nein, mutig sei er keineswegs, womit er auch klarstellt, dass er Krimis überhaupt nicht mag und nicht versteht, weshalb sich ganz Deutschland jeden Sonntagabend den Tatort oder Aktenzeichen XY anschaut oder drei-, viermal im Jahr eine Folge aus Nord, Nord, Mord, in der er eine der drei Hauptrollen spielt. Es freut ihn aber doch, wenn er am nächsten Tag die Einschaltquoten liest: bis zu 10 Millionen Zuschauer pro Folge. 

Wnuk spricht über seinen Vater. Einmal sei Wnuk von seinem Halbbruder vom Boot in den Bodensee gestoßen worden. Und während Wnuk so vor sich hin zu ertrinken drohte, beobachtete er seinen Vater, wie er etwas hilflos überlegte, was zu tun sei. Gefühlt nach einer Ewigkeit hätte er ihm dann doch den Rettungsring zugeworfen. 

Kein persönliches Thema ist Wnuk zu intim, um es nicht auch auf der Bühne in all seinen Facetten auszubreiten. So widmete er sich beispielsweise dem Thema „Ohren“. Vor einem Kongress von HNO-Ärzten ließ er seine Gedanken laut über diese faszinierenden Sinnesorgane schweifen. Er sprach über die feinen Härchen, die in den Ohren sprießen, über übel riechenden Ohrenschmalz und sogar über skurrile Sexpraktiken, die sich um Ohren ranken. Das Publikum verzeiht ihm jede Peinlichkeit mit einem Lächeln. Auch seine jüngste Anekdote, dass er nach Bayern gezogen ist, wo ihn das Geläut der Kirchenglocken überraschte und er sich selbst dabei ertappte, wie er die Bäckerin mit einem herzlichen „Grüß Gott“ begrüßte, nimmt es ihm nicht übel.

Er redet über Heimat, wo die sei – am Bodensee bzw. in Konstanz? Da kommt er her. Seine Eltern hätten Konstanz nie verlassen. Er musste immer raus. Einmal wäre er sogar wieder in den Stadtteil „Paradies“ in Konstanz gezogen. Er schwärmt von dem Stadtteil, und im nächsten Augenblick sagt er, dass er dort nicht mehr leben könne. Heimat sei für ihn der Ort, an dem er einfach er sein könne.

Seit ich weiß, wie sehr die Umwelt, die man als Kind in den ersten Lebensjahren wahrgenommen hat, all unsere Wahrnehmung prägt – sei es der Lauf der Sonne, das Licht, der Wind, die Berge, die Wälder, die Seen, die Bäche und Flüsse, die Menschen und Tiere, einfach alles – seit ich weiß, dass die Evolution seit jeher dafür sorgt, dass die Natur die Ausprägung unserer Instinkte in den ersten Momenten unseres Lebens ein für allemal festlegt, seither weiß ich, dass Heimat dort ist, wo man als Kind glücklich war – selbst dann, wenn man später dort nicht mehr leben kann. So rufe ich ihm beim Herausgehen zu, er solle Konstanz treu bleiben.

Wnuk denkt viel über das Leben nach, weniger über den Sinn, dafür aber mehr über das Wie. Spaß solle man haben, einfach nur Spaß. 

Man spricht bekanntlich immer über das, was einem Probleme bereitet. Kurz vor der Veranstaltung erzählt mir Dörte, dass sich Wnuks Frau kürzlich von ihm getrennt hätte und schon wieder einen anderen hat. So gesehen, wandeln sich Wnuks Worte für einen Augenblick in einen Hilferuf. Aber das ist eben auch Wnuks Art, die seine Fans an ihm lieben – dieses tollpatschige, hilflose, absolut sympathische. 

Nach der Veranstaltung bietet Oliver Wnuk zwei Bücher zum Kauf an, Die Hochhaus-Katze, ein Kinderbuch, und eines mit dem Titel Wie im richtigen Film. Am Ende sind nur noch wenige Exemplare des Kinderbuchs übrig, das Erwachsenenbuch ist ausverkauft. Viele Gäste machen Selfies mit ihm. Das Team von Nord, Nord, Mord hält sich im Hintergrund auf. Ina ist auch dabei, klein, mit Zöpfen. Mit ihr hätte ich auch gerne ein paar Worte gewechselt, weil sie als Kommissarin so wunderbar sympathisch an der Seite von Oliver Wnuk herüberkommt. „Wie hält man es mit so einem Mann aus?“, hätte ich sie gerne gefragt.