In den Rissen des Alltäglichen – Nepal sehen, ohne zu begreifen
Nepal – auch nach fünf Monaten werde ich es wohl niemals verstehen. Denn Verstehen ist ein Zähmen, ein Einkreisen, ein Bändigen. Aber dieses Land entzieht sich jedem Griff, jeder festen Kontur, jedem Versuch, es in Worte zu fassen.
Ja, ich könnte mich verlieren – im Schmatzen und Schlürfen beim Essen, in den rußigen Atemzügen alter Motoren, in den heiseren Rufen der Straßenhändler, im schrillen Dröhnen des Verkehrs, der wie ein unbändiger Strom durch die staubigen Adern dieser Stadt rauscht.
Ich könnte mich verlieren in den langen Schlangen junger Männer und Frauen vor den Abflughallen – in den tränenreichen Abschieden, die wie unsichtbare Narben zurückbleiben, die sich tief in die Herzen ihrer Familien graben – vielleicht für Jahre, vielleicht für immer. Viel länger, als ich meine Lieben in zwölf Tagen nicht sehen werde.

Ich könnte mich verlieren in den zahllosen Akten des Stillhaltens, des Sich-Bückens, des Sich-Fügens – in der Korruption, die sich wie Rost durch die Strukturen frisst, in der Stille derer, die sich ihrer Geburt wegen ducken müssen, in der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, die sich wie ein dunkler Riss durch die Seele dieses Landes zieht.
Aber ich habe mich nie nur in diese Oberfläche verirrt. Denn wenn ich das Offensichtliche für die ganze Wahrheit hielte, würde ich blind werden für das Unsagbare, taub für die feinen, brüchigen Töne, die nur hörbar sind, wenn man still wird. Wenn man sich dem Moment hingibt, ihn atmet, ihn mit offenen Augen und weitem Herzen aufnimmt.
Vielleicht habe ich mich genau deshalb verliebt, vor 14, 15 Jahren – weil ich meine Kamera nicht als Werkzeug des Begreifens nutzte, nicht als Instrument, um die Welt in kleine, saubere Kategorien zu pressen. Sondern als eine Möglichkeit, Augenblicke einzufangen, die sich nur dem offenbaren, der bereit ist, selbst unsichtbar zu werden.

Nicht die glühenden Berggipfel, nicht die exotischen Tempel, nicht die malerischen Terrassenfelder. Sondern Hände, die arbeiten, ruhen, sich berühren. Augen, die leuchten, träumen, sich sehnen. Gesichter, die erzählen, ohne zu sprechen.
Und wenn ich heute diese Bilder betrachte, wenn ich mich in ihren feinen Linien und Schatten verliere, dann entdecke ich vielleicht das, was mir im hektischen, flüchtigen Moment oft entgeht – die stillen Botschaften, die sich nur denen offenbaren, die nicht gleich antworten, die warten können, die sehen, ohne zu greifen.
Vielleicht ist es genau das – dieser Mut, still zu sein, die Augen offen zu halten, auch wenn die Welt ringsum zerfällt –, was uns Menschen am Ende wirklich ausmacht.
Fühlen. Hören. Sehen. Sein.
In the cracks of everyday life – seeing Nepal without realising it
Nepal – even after five months I will probably never understand it. Because understanding is taming, encircling, taming. But this country eludes any grip, any firm outline, any attempt to put it into words.
Yes, I could lose myself – in the smacking and slurping of food, in the sooty breaths of old engines, in the hoarse shouts of street vendors, in the shrill roar of the traffic that rushes through the dusty veins of this city like an unrestrained stream.
I could lose myself in the long queues of young men and women in front of the departure halls – in the tearful farewells that remain like invisible scars that dig deep into the hearts of their families – perhaps for years, perhaps forever. Much longer than I will not see my loved ones in twelve days.
I could lose myself in the countless acts of keeping still, of bending over, of giving in – in the corruption that eats through the structures like rust, in the silence of those who have to cower because of their birth, in the growing gap between rich and poor that runs through the soul of this country like a dark rift.
But I have never strayed only into this surface. Because if I took the obvious for the whole truth, I would become blind to the unspeakable, deaf to the subtle, fragile sounds that are only audible when you become still. When you surrender to the moment, breathe it in, take it in with open eyes and a wide heart.
Maybe that’s exactly why I fell in love 14 or 15 years ago – because I didn’t use my camera as a tool of comprehension, not as an instrument to press the world into small, neat categories. But rather as a way of capturing moments that only reveal themselves to those who are prepared to become invisible themselves.
Not the glowing mountain peaks, not the exotic temples, not the picturesque terraced fields. But hands that work, rest, touch. Eyes that shine, dream, yearn. Faces that tell stories without speaking.
And when I look at these pictures today, when I lose myself in their fine lines and shadows, then perhaps I discover what often escapes me in the hectic, fleeting moment – the silent messages that only reveal themselves to those who do not respond immediately, who can wait, who see without grasping.
Perhaps it is precisely this – this courage to be still, to keep our eyes open, even when the world around us is falling apart – that really defines us humans in the end.
Feeling. Hearing. Seeing. Being.