Kasten und Lügen

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„Man versteht ein System nur, wenn man nicht Teil davon ist,“ sagt Yeshi, und in ihren Worten liegt eine Mischung aus Entschlossenheit und Resignation. Sie spricht von der „großen Kasten-Lüge“ ihres Vaters, die ihr Leben lange unsichtbar gesteuert hat, bis sie schließlich selbst die Konsequenzen zu tragen hatte. Ihr Vater, ein Dalit, ein „Unantastbarer“, wagte nie, zu seiner Kaste zu stehen. Um die starren Grenzen zu umgehen, gab er sich einen neuen Namen – „Shresta“, der einer hochstehenden Kaste zugeordnet ist. Seine Bürgerkarte blieb jahrelang versteckt, wie ein Geheimnis, das die Familie um jeden Preis bewahren musste.

Yeshi erfuhr von der Lüge ihres Vaters zu einer Zeit, als sie noch in der Arya-Tara-Schule war, einem buddhistischen Kloster, das ihr acht Jahre lang eine Art Zuflucht bot. Der Mönch, der sie dorthin gebracht hatte, kannte sie nur unter ihrem falschen Familiennamen und so lebte sie eine Identität, die ihr eigentlich nie gehörte. Sie bestand die Abschlussprüfungen der zehnten Klasse – ein bedeutender Schritt, um sich in Nepal höhere Bildungsziele zu sichern. Doch das Schulsystem erforderte einen echten Namen und eine klare Identität, und so holte die Lüge ihren Vater und schließlich auch Yeshi ein.

Als sie die Schulbehörden aufsuchte, um das Missverständnis zu klären, stieß sie auf kaltes Unverständnis. Ein District Officer, der ihre Situation hören sollte, beschimpfte sie. „Wie kannst du es wagen, dich als Shresta auszugeben?“ schrie er. „Zwischen deiner Kaste und dieser liegen Welten – so weit voneinander entfernt wie Erde und Universum.“ Er zerriss das Zeugnis vor ihren Augen. Die Demütigung brannte in ihr, und sie hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Stattdessen schwieg sie und nahm es hin. Es war, so sagte sie sich, ihr Karma, ihre Bürde in diesem Leben. Doch das Schweigen ihrer Eltern, ihr Bitten, die Lüge aufrechtzuerhalten, drückte schwer auf ihre Schultern. So verließ sie die Arya-Tara-Schule ohne legale Zeugnisse, dafür mit einem schweren Trauma.

Es blieb ihr jedoch ein Weg, um wenigstens ihrer Schwester ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Bei ihr stellte sie die Identität früh genug klar, sodass diese später ein Zeugnis mit ihrem echten Namen erhielt und weiterstudieren konnte. Ihre Mutter konnte das nicht verstehen und machte Yeshi schwere Vorwürfe. „Warum nur bringst du uns in diese Lage?“ fragte sie, fassungslos. Yeshi entgegnete ihr nichts. Sie wusste, dass die Familie jahrelang nie an öffentlichen Veranstaltungen teilgenommen hatte, aus Angst, der Vater könnte als Dalit entlarvt werden. Selbst enge Verwandte kannten das wahre Geheimnis nicht. Einmal sprach sie mit ihrem Onkel, der zum ersten Mal die volle Wahrheit erfuhr. „Nun verstehe ich,“ sagte er, „weshalb sie uns alle gemieden haben.“

Heute arbeitet ihr Vater, der inzwischen alkoholsüchtig ist, als Koch in einem buddhistischen Kloster in Indien. Die Mönche kennen seine Identität, und Yeshi hofft, dass er dort in der Ruhe des Klosters endlich erkennt, dass seine Lüge die Familie auseinandergerissen hat. Yeshi hat ihm längst vergeben, doch der Weg dahin war lang und voller Stolpersteine.

Für Yeshi war es ein harter Spießrutenlauf, in dem sie gezwungen war, mit der Wahrheit alleine zu leben. Ihre Eltern erwarteten, dass sie das Geheimnis weitertrug, um nicht das Schicksal eines gesellschaftlichen Outcasts zu erleiden. Doch Yeshi wollte endlich den Mut aufbringen, zu sich selbst zu stehen. Ein Leben, das nur durch eine Lüge bestehen kann, ist kein Leben – das weiß sie jetzt. Ich erkenne in ihrer Geschichte vieles wieder, die bittere Erfahrung, Teile der eigenen Identität verbergen zu müssen, um geliebte Menschen nicht zu verlieren. Für sie kann ich mir nur wünschen, dass sie den Mut findet, auch den Rest ihrer Vergangenheit klarzustellen.

Yeshi sagte einmal: „Es geht nicht um den Namen. Seinen Namen kann man jederzeit ändern. Was liegt schon in einem Namen? Aber seine Kastenzugehörigkeit zu ändern, das ist ein Vergehen, das streng geahndet wird. Man kann dafür sogar bestraft werden und im Gefängnis landen.“ Diese Worte treffen den Kern der Tragödie, die sich durch ihre Familiengeschichte zieht. Die Lüge ihres Vaters, seine wahre Kaste als Dalit zu verbergen, um als Shresta eine höhergestellte Identität anzunehmen, hat in ihrer Kultur schwerwiegende Folgen – weit über die moralische Ebene hinaus. Eine Veränderung des Namens mag noch als harmlos gelten, doch die Manipulation der Kaste ist ein Tabu, das der Staat nicht toleriert.

Gestern Abend sprachen wir lange darüber, und ich drängte sie, die Korrektur ihres Schulzeugnisses unbedingt so schnell wie möglich in die Wege zu leiten. „Ohne ein korrektes, legales Zeugnis bleibt dir die Anerkennung verwehrt, die du verdienst,“ sagte ich ihr. Für Yeshi war das ein schmerzliches Thema, das sie lange mit sich herumgetragen hatte. Dass sie die schulischen Leistungen erbracht hatte, aber der Preis der Lüge ihr den Weg versperrte, quälte sie seit Jahren.

Rückblickend ist sie dankbar, dass sie trotz der ungültigen Zeugnisse vom Montessori-Kindergarten „Hello Kids Academy“ in Kathmandu aufgenommen wurde. Dort hatte man ihren Wert erkannt, auch ohne ein anerkanntes Abschlussdokument. Sie erinnert sich mit Wärme an die Zeit dort – die Kolleginnen, die Kinder, mit denen sie auf Anhieb ein besonderes Band knüpfte. Ihr Talent und ihre Hingabe im Umgang mit den Kindern wurden schnell bemerkt, und sie verdiente sogar mehr als viele andere Erzieherinnen. „Ich hätte gerne dort weitergearbeitet,“ sagt sie, „aber das Gehalt reichte einfach nicht, um meine Familie zu unterstützen.“

Yeshi musste letztlich den Kindergarten verlassen, um in Zypern ein höheres Einkommen zu erzielen. Dennoch bleibt diese Zeit für sie ein Beweis dafür, dass die gesellschaftlichen Barrieren durchbrochen werden können, wenn Menschen die Menschlichkeit über alte Strukturen stellen. Ihre Geschichte zeigt, dass wahre Anerkennung nicht auf Papier beruht – auch wenn es ihr Wunsch bleibt, die Wahrheit zu klären und das Zeugnis zu erhalten, das ihrem Leben und ihren Leistungen gerecht wird.

Ein letzter gemeinsamer Nachmittag

Abschied von Lekshey (rechts)

Gestern war Leksheys letzter Tag bei uns. Am frühen Nachmittag fuhren wir zum Zoo von Paphos, um die gemeinsame Zeit noch einmal in Ruhe zu genießen. Die Sonne stand hoch am Himmel, die Tiere bewegten sich träge in der Hitze, und eine angenehme Stille lag über den Wegen. Als wir zwischen den Gehegen entlanggingen, fiel Yeshis Blick auf einen Jungen mit asiatischen Zügen, der verträumt und allein durch den Zoo schlenderte. „Schau dir diesen süßen Jungen an. Ist er nicht bezaubernd?“ sagte sie mit einem warmen Lächeln.

„Ein Kind, wie viele,“ dachte ich mir. Doch später, als wir gegen Abend nach Limassol zurückkehrten und noch die letzten Sonnenstrahlen zwischen den Gebäuden leuchteten, begegneten wir auf der belebten Promenade zwei kleinen Jungen. Yeshi strahlte, beugte sich zu ihnen hinunter und begrüßte sie freundlich, als würde sie sie schon lange kennen.

In diesem Moment wurde mir klar, was Yeshi meinte. Sie sieht sich in den Gesichtern der Kinder wieder, voller Offenheit und ohne Vorbehalte, so wie sie selbst sich als Kind Aufmerksamkeit gewünscht hätte. Die Art, wie sie ihnen begegnet, zeigt, wie tief sie in sich die Liebe bewahrt, die ihr selbst oft verwehrt wurde. Sie scheint die Wärme, die ihr Leben lange entbehrt hat, nun an andere zu verschenken – an Kinder, an Freunde, an Fremde.

Später, bei unserem letzten gemeinsamen Abendessen in Limassol, in der Kühle der Dämmerung, begriff ich, welche außergewöhnliche Stärke in Yeshi steckt. Ihre Gabe, andere glücklich zu machen, kommt aus einer Quelle, die niemals zu versiegen scheint. Es ist, als ob sie das Glück, das sie für sich selbst sucht, in jedem Menschen, dem sie begegnet, zum Leuchten bringen möchte.


Castes and lies

‘You can only understand a system if you are not part of it,’ says Yeshi, and there is a mixture of determination and resignation in her words. She talks about her father’s ‘big caste lie’, which controlled her life invisibly for a long time until she finally had to bear the consequences herself. Her father, a Dalit, an ‘untouchable’, never dared to stand by his caste. To circumvent the rigid boundaries, he gave himself a new name – ‘Shresta’, which is associated with a high-ranking caste. His citizenship card remained hidden for years, like a secret that the family had to keep at all costs.

Yeshi learnt of her father’s lie at a time when she was still in the Arya Tara school, a Buddhist monastery that offered her a kind of refuge for eight years. The monk who had brought her there only knew her by her false surname and so she lived an identity that never really belonged to her. She passed her tenth grade final exams – a significant step towards securing higher education in Nepal. But the school system required a real name and a clear identity, and so the lie caught up with her father and eventually Yeshi too.

When she went to the school authorities to clear up the misunderstanding, she was met with cold incomprehension. A district officer, who was supposed to hear her situation, insulted her. ‘How dare you pretend to be Shresta?’ he shouted. ‘There are worlds between your caste and this one – as far apart as the earth and the universe.’ He tore up the testimony before her eyes. The humiliation burned inside her and she would have liked to punch him in the face. Instead, she kept quiet and accepted it. It was, she told herself, her karma, her burden in this life. But the silence of her parents, their pleas to uphold the lie, weighed heavily on her shoulders. So she left the Arya Tara School without legal certificates, but with a severe trauma.

However, she still had a way to spare at least her sister a similar fate. She clarified her identity early enough so that she later received a certificate with her real name and was able to continue her studies. Her mother couldn’t understand this and reproached Yeshi. ‘Why are you putting us in this position?’ she asked, stunned. Yeshi didn’t say anything back. She knew that the family had never attended public events for years for fear that the father would be exposed as a Dalit. Even close relatives did not know the real secret. Once she spoke to her uncle, who learnt the full truth for the first time. ‘Now I understand,’ he said, ’why they all shunned us.’

Today, her father, who is now addicted to alcohol, works as a cook in a Buddhist monastery in India. The monks know his identity and Yeshi hopes that in the peace and quiet of the monastery he will finally realise that his lie has torn the family apart. Yeshi has long since forgiven him, but the road to this point was long and full of stumbling blocks.

For Yeshi, it was a tough gauntlet in which she was forced to live alone with the truth. Her parents expected her to keep the secret so as not to suffer the fate of a social outcast. But Yeshi finally wanted to summon up the courage to stand up for herself. A life that can only exist through a lie is no life at all – she knows that now. I recognise a lot in her story, the bitter experience of having to hide parts of your own identity in order not to lose loved ones. I can only wish for her that she finds the courage to come clean about the rest of her past.

Yeshi once said: ‘It’s not about the name. You can always change your name. What’s in a name? But changing your caste is an offence that is severely punished. You can even be punished for it and end up in prison.’ These words strike at the heart of the tragedy that runs through her family history. Her father’s lie of concealing his true caste as a Dalit in order to assume a higher caste identity as a Shresta has serious consequences in her culture – far beyond the moral level. Changing one’s name may still be considered harmless, but manipulating one’s caste is a taboo that the state will not tolerate.

Last night we talked about it at length and I urged her to get her school report corrected as soon as possible. ‘Without a correct, legal certificate, you will be denied the recognition you deserve,’ I told her. For Yeshi, this was a painful issue that she had been carrying around with her for a long time. She had been tormented for years by the fact that she had done well at school, but the price of lying was blocking her path.

Looking back, she is grateful that she was accepted by the Montessori kindergarten ‘Hello Kids Academy’ in Kathmandu despite the invalid certificates. Her value was recognised there, even without a recognised diploma. She remembers her time there with warmth – the colleagues, the children with whom she formed a special bond straight away. Her talent and dedication in dealing with the children were quickly recognised, and she even earned more than many other nursery teachers. ‘I would have liked to continue working there,’ she says, ’but the salary just wasn’t enough to support my family.’

Yeshi ultimately had to leave the kindergarten in order to earn a higher income in Cyprus. Nevertheless, this time remains proof for her that social barriers can be broken when people put humanity above old structures. Her story shows that true recognition is not based on paper – even if it remains her wish to clarify the truth and receive the testimony that does justice to her life and achievements.

One last afternoon together

Yesterday was Lekshey’s last day with us. In the early afternoon, we travelled to Paphos Zoo to enjoy our time together once again in peace. The sun was high in the sky, the animals moved lazily in the heat and a pleasant silence lay over the paths. As we walked between the enclosures, Yeshi’s gaze fell on a boy with Asian features who was strolling dreamily and alone through the zoo. ‘Look at this cute boy. Isn’t he adorable?’ she said with a warm smile.

‘A child, like many,’ I thought to myself. But later, when we returned to Limassol towards evening and the last rays of sunlight were still shining between the buildings, we came across two little boys on the lively promenade. Yeshi was beaming, bent down to them and greeted them warmly, as if she had known them for a long time.

At that moment, I realised what Yeshi meant. She sees herself in the children’s faces, full of openness and without reservations, just as she herself would have wanted attention as a child. The way she meets them shows how deeply she harbours the love that she herself was often denied. She seems to give the warmth that her life has long lacked to others – to children, to friends, to strangers.

Later, at our last dinner together in Limassol, in the cool of dusk, I realised what extraordinary strength Yeshi possesses. Her gift for making others happy comes from a source that never seems to run dry. It is as if she wants the happiness she seeks for herself to shine in everyone she meets.