Licht und Schatten am Bagmati-Fluss – Eine Reise in den Slum von Kathmandu

Read this post in English ↓

Es ist kurz vor sechs Uhr abends. Auf dem Hof von Shanti Sewa Griha werden drei große Metalltonnen auf die Ladefläche eines Kleinlasters gewuchtet. Kurz darauf verlassen wir das Gelände und bahnen uns einen Weg durch die verstopften Straßen Kathmandus. Hupen schrillen, Motorräder schlängeln sich durch enge Lücken zwischen Autos und Rikschas. Der Bagmati-Fluss, der uns auf unserem Weg begleitet, ist eine träge, schwarze Kloake, die Müll, Abwasser und Fäkalien mit sich führt.

Allmählich lassen wir das Chaos der Innenstadt hinter uns. Die Straßen werden leerer, die Geräuschkulisse gedämpfter. Schließlich biegt unser Fahrer in eine schmale Seitenstraße ab. Vor uns liegt ein Areal, das auf den ersten Blick wie ein improvisierter Campingplatz wirkt – doch statt Wohnwagen und Zelte stehen hier Hütten aus Wellblech, Bambus und Plastikplanen. Die Dächer sind mit Steinen beschwert, um den heftigen Monsunregen zu trotzen.

Hier, am Rand der Gesellschaft, leben Hunderte Menschen – eng gedrängt, ohne Sicherheit, ohne Perspektive.

Überleben in der Gemeinschaft

Der Laster hält an seinem gewohnten Platz. Ein taubstummer Junge klettert flink auf die Ladefläche und zieht zwei der silbernen Tonnen nach vorne. Hinter dem Fahrzeug hat sich bereits eine Schlange gebildet. Junge Frauen und Männer, einige Teenager, stehen geduldig mit zwei Gefäßen in der Hand: ein großes für den Reis, ein kleineres für die Linsensuppe.

Eine Frau steigt auf die Ladefläche und öffnet die erste Tonne – der Duft von dampfendem, weißem Reis steigt auf. Der Junge öffnet die zweite, kleinere Tonne: eine würzige Gemüsesuppe, wahrscheinlich mit Linsen. Die Menschen hier kennen sich. Sie wissen genau, wie viele Erwachsene und Kinder in ihren Hütten auf das Essen warten. Niemand drängt sich vor. Jeder nimmt nur so viel, wie nötig ist.

Es ist ein stilles Ritual des Überlebens.

Die Katastrophe, die alles veränderte

Vor einem Jahr verwüstete eine Flut große Teile Kathmandus. Der Bagmati trat über die Ufer, riss alles mit sich – auch die Hütten der Slumbewohner. Die Menschen wurden überrascht, hatten keine Chance zu fliehen. Manche klammerten sich an Bäume, andere versuchten, sich mit Seilen zu retten. Doch viele wurden verletzt: Rostige Eisenstangen, die der Fluss mit sich riss, durchbohrten Haut und Fleisch, trieben in den Strömungen wie tödliche Fallen.

Die Ärzte von Shanti Sewa Griha versorgten die Verletzten über Tage hinweg. Sie nähten Wunden, behandelten Infektionen, verhinderten Amputationen. Ohne diese schnelle Hilfe hätten viele ihre Gliedmaßen – oder ihr Leben – verloren.

Heute versorgt Shanti 140 Familien dieses Slums täglich mit Dal Bhat – Reis, Linsen, Gemüse. Für die Menschen hier ist es oft die einzige warme Mahlzeit des Tages.

Arbeiten für den Westen

Nachdem ich die Essensverteilung fotografiert habe, schlendere ich durch die engen Gassen. Strom gibt es erst seit Kurzem, doch inzwischen brennen überall Glühbirnen und tauchen die schmalen Wege in warmes Licht.

Hinter einer offenen Tür arbeiten drei Männer an Nähmaschinen. Die Maschinen sind teuer, professionell. Das rhythmische Klacken der Nadeln erfüllt den Raum. Sie nähen Karate-Gürtel und Kampfanzüge – nicht für die Kinder von Shanti, sondern für den Export.

Überall im Slum wird gearbeitet: Frauen flechten Körbe, Männer schweißen Metallgestelle zusammen, Kinder helfen beim Sortieren von Stoffen. Die meisten hier verdienen nicht mehr als ein paar Dollar am Tag. Mindestlöhne gibt es nicht, Schutzvorkehrungen ebenso wenig.

Die Produkte, die hier entstehen, landen auf westlichen Märkten – als günstige Waren für Konsumenten, die nicht wissen (oder nicht wissen wollen), unter welchen Bedingungen sie gefertigt wurden.

Leben im Slum oder in der Betonwüste?

Auf der anderen Seite des Flusses reihen sich moderne Mietskasernen aneinander. Der Bürgermeister von Kathmandu ließ sie errichten, um die Slumbewohner umzusiedeln. Doch viele lehnten den Umzug ab.

Warum?

„Hier kennt jeder jeden“, sagt ein älterer Mann, während er in seiner kleinen Hütte Tee kocht. „Dort oben, in den Wohnblöcken, bist du allein.“

Es ist ein Widerspruch, den auch wir im Westen kennen. Unsere Städte wachsen, Hochhäuser schießen in die Höhe – und doch fühlen sich immer mehr Menschen isoliert. Der Slum mag ein Ort der Armut sein, doch er bietet etwas, das in den modernen Betonwüsten oft fehlt: Gemeinschaft.

Die unsichtbare Verbindung

Während ich weiter durch die Gassen laufe, wird mir bewusst, wie eng das Leben der Menschen hier mit unserem Alltag verknüpft ist.

Die günstigen Kleider in unseren Geschäften? Vielleicht wurden sie hier genäht. Die handgefertigten Gürtel, die in schicken Boutiquen verkauft werden? Möglicherweise stammen sie aus dieser engen Nähwerkstatt.

Wir profitieren von ihrer Armut. Unsere Nachfrage hält dieses System am Laufen.

Doch was passiert, wenn ein Kind aus dem Slum krank wird? Wenn ein Arbeiter seine Hände bei der Arbeit verletzt? Wer übernimmt die Verantwortung? Niemand.

Die Globalisierung hat uns eng miteinander verflochten – doch während der Wohlstand auf der einen Seite wächst, bleibt die Armut auf der anderen Seite bestehen.

Licht im Dunkel

Als wir den Slum verlassen, sehe ich ein junges Paar auf einer Bank sitzen. Sie lehnen sich aneinander, reden leise, ihre Hände ineinander verschlungen.

Trotz allem gibt es hier Liebe. Hoffnung. Ein bisschen Glück.

Und vielleicht ist das die größte Stärke der Menschen hier: dass sie sich nicht unterkriegen lassen – selbst in einer Welt, die ihnen so wenig bietet.


English version below


Light and Shadow by the Bagmati River – A Journey into the Slums of Kathmandu

It’s just before 6 p.m. At the courtyard of Shanti Sewa Griha, three large metal containers are being hoisted onto the back of a small truck. Moments later, we’re on the road, weaving through Kathmandu’s congested streets. Horns blare, motorbikes slip through tight gaps between cars and rickshaws. The Bagmati River runs alongside us—sluggish, dark, and clogged with trash, sewage, and excrement.

Gradually, we leave the chaos of the city center behind. The streets become quieter, the noise more subdued. Eventually, our driver turns down a narrow side road. Before us lies a site that at first glance looks like a makeshift campsite—but instead of caravans and tents, there are huts made of corrugated metal, bamboo, and plastic tarps. Stones weigh down the roofs to withstand the heavy monsoon rains.

Here, at the edge of society, hundreds of people live—crammed together, with no safety net and no clear future.

Survival through community

The truck stops at its usual spot. A deaf-mute boy quickly climbs onto the loading platform and pulls two of the silver drums forward. Behind the vehicle, a line has already formed. Young women and men, some still teenagers, wait patiently, holding two containers—one large for rice, one smaller for the lentil soup.

A woman climbs onto the truck and opens the first drum—the scent of steaming white rice rises into the air. The boy opens the second, smaller one: a spicy vegetable stew, likely with lentils. The people here know each other. They know exactly how many adults and children are waiting in their huts. No one pushes forward. Everyone takes only what they need.

It’s a quiet ritual of survival.

The disaster that changed everything

A year ago, flooding devastated large parts of Kathmandu. The Bagmati overflowed its banks, sweeping away everything in its path—including the homes in this slum. People were caught off guard, unable to flee. Some clung to trees, others tried to escape using ropes. But many were injured—rusty iron rods carried by the river pierced skin and flesh, drifting through the current like deadly traps.

Doctors from Shanti Sewa Griha treated the injured for days. They stitched wounds, fought infections, and prevented amputations. Without that rapid response, many would have lost limbs—or their lives.

Today, Shanti provides daily meals to 140 families in this slum—Dal Bhat: rice, lentils, vegetables. For many here, it’s the only hot meal of the day.

Working for the West

After photographing the food distribution, I wander through the narrow alleys. Electricity only recently arrived, but now bulbs hang everywhere, casting a warm light onto the footpaths.

Behind an open door, three men are working at sewing machines. The machines are high-end, professional-grade. The rhythmic click of needles fills the room. They are stitching karate belts and martial arts uniforms—not for Shanti’s children, but for export.

Work is everywhere in the slum: women weaving baskets, men welding metal frames, children helping sort fabrics. Most earn only a few dollars a day. No minimum wage, no safety standards.

The goods made here end up on Western markets—affordable products for consumers who don’t know (or prefer not to know) how and where they were produced.

Slum or concrete desert?

Across the river, modern housing blocks line up in rows. Kathmandu’s mayor had them built to resettle slum dwellers. But many rejected the offer.

Why?

“Here, everyone knows everyone,” says an older man, brewing tea in his small hut. “Up there in those buildings—you’re alone.”

It’s a contradiction we know from the West, too. Cities grow, high-rises spring up—yet more and more people feel isolated. The slum may be a place of poverty, but it offers something often missing in the modern concrete jungle: community.

The invisible connection

As I continue through the alleys, I realize how closely our lives are intertwined with those here.

The cheap clothes in our shops? They may have been sewn here. The handmade belts in upscale boutiques? Possibly from this cramped workshop.

We benefit from their poverty. Our demand keeps this system going.

But what happens when a child here falls ill? When a worker injures their hands on the job? Who takes responsibility? No one.

Globalization has tightly bound us together—yet while prosperity grows on one side, poverty persists on the other.

Light in the dark

As we leave the slum, I see a young couple sitting on a bench. They lean on each other, speaking quietly, fingers intertwined.

Despite everything, there is love here. Hope. A little happiness.

And maybe that is the greatest strength of the people here: that they refuse to give up—even in a world that offers them so little.