Mitgefühl statt Liebe: Ein Gespräch mit Norbu aus dem Schechen-Kloster
Gestern hatte ich das Glück, mit Norbu, einem buddhistischen Mönch aus dem Schechen-Kloster in Kathmandu, über ein Thema zu sprechen, das uns alle betrifft: die Liebe. Norbu überraschte mich gleich zu Beginn, als er sagte, dass Liebe, so wie wir sie gewöhnlich verstehen, nur begrenzt sei. Sie sei oft an Bedingungen geknüpft und an das Gefühl der „Happyness“, also des Glücklichseins, gebunden.
Er erklärte es mir so: Wir sind „happy“, weil wir unsere Tochter, unseren Partner, unsere Freunde lieben. Dieses Glücksgefühl entsteht, weil wir positive Verbindungen und gemeinsame Erlebnisse mit diesen Menschen teilen. Doch wie sieht es mit jemandem aus, der uns verletzt hat? Wie steht es mit einem Feind oder gar einem Verbrecher? Können wir auch in solchen Fällen von Liebe sprechen? Wohl kaum. Genau hier, so Norbu, zeigt sich die Begrenztheit der Liebe. Sie ist selektiv, richtet sich auf jene, die uns nahe stehen oder die wir als „gut“ empfinden.
Norbu führte weiter aus, dass es in der buddhistischen Lehre etwas gibt, das über die Liebe hinausgeht: Compassion, also Mitgefühl. Mitgefühl ist nicht an Bedingungen geknüpft und nicht selektiv. Es bedeutet, jeden Menschen als Mensch zu sehen, unabhängig von seinem Verhalten oder seiner Rolle in unserem Leben. Während Liebe oft persönlicher und von einer gewissen Gegenseitigkeit abhängig ist, fordert Mitgefühl uns dazu auf, uns in andere hineinzuversetzen – auch in diejenigen, die wir schwer ertragen können.
Warum Mitgefühl stärker ist als Liebe
Norbu brachte mich dazu, darüber nachzudenken, warum Mitgefühl in vielerlei Hinsicht universeller ist als Liebe. Liebe, so wie wir sie kennen, ist oft ein Austausch. Wir lieben jemanden, weil er oder sie uns auf eine bestimmte Weise erfüllt oder glücklich macht. Aber was passiert, wenn diese Person uns enttäuscht oder unsere Erwartungen nicht mehr erfüllt? Liebe kann schnell in Frustration oder sogar Ablehnung umschlagen.
Mitgefühl hingegen erfordert weder eine Gegenleistung noch eine positive Beziehung. Es verlangt von uns, die menschliche Erfahrung zu erkennen, die wir alle teilen – den Wunsch nach Glück, die Angst vor Leid. Ein Verbrecher mag schreckliche Taten begangen haben, aber auch er ist ein Mensch, der unter seinen eigenen Bedingungen leidet. Das bedeutet nicht, dass wir sein Verhalten gutheißen oder entschuldigen müssen. Aber es bedeutet, dass wir nicht hassen müssen. Mitgefühl gibt uns die Möglichkeit, das Menschliche hinter dem Handeln zu sehen.
Mitgefühl in Beziehungen
Norbu sagte auch etwas, das mich besonders berührt hat: Selbst in unseren engsten Beziehungen ist Mitgefühl wichtiger als Liebe. Natürlich können wir unsere Partner, Kinder oder Freunde lieben, aber diese Liebe wird stärker, wenn wir sie mit Mitgefühl durchdringen. Mitgefühl bedeutet, den anderen in seinem Schmerz zu sehen, seine Unvollkommenheiten zu akzeptieren und nicht nur darauf zu schauen, was er oder sie uns gibt.
Stellen wir uns vor, wir erleben eine Meinungsverschiedenheit mit unserem Partner. Liebe allein mag uns dazu bewegen, nachzugeben oder die Situation zu beschwichtigen. Mitgefühl hingegen lädt uns ein, wirklich zuzuhören, zu verstehen, warum der andere so fühlt, und aus diesem Verständnis heraus zu handeln. Es schafft eine tiefere Verbindung, die über einfache Zuneigung hinausgeht.
Ein universeller Ansatz
Norbus Worte wirken noch immer in mir nach. Mitgefühl als universellen Ansatz zu wählen, könnte viele Konflikte in der Welt entschärfen – in unseren persönlichen Beziehungen, aber auch in gesellschaftlichen und politischen Kontexten. Es erinnert uns daran, dass selbst der schlimmste Mensch in unseren Augen irgendwo ein Mensch bleibt, mit Wünschen, Ängsten und Erfahrungen, die wir nicht kennen.
Das ist keine leichte Übung. Es erfordert ständiges Üben und Reflektieren, unsere eigenen Vorurteile zu hinterfragen und unseren natürlichen Impuls zu kontrollieren, Menschen in „gut“ und „böse“ einzuteilen. Doch wenn es gelingt, eröffnet es eine neue Perspektive auf die Welt – eine, die nicht nur auf Verbindung, sondern auf tieferem Verständnis beruht.
Mitgefühl als Praxis
Norbu hat mir gezeigt, dass Mitgefühl nicht einfach eine schöne Idee ist, sondern eine echte Praxis. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass Mitgefühl tatsächlich die Grundlage für ein friedvolleres und sinnerfüllteres Leben sein kann. Vielleicht sollten wir weniger danach streben, zu lieben, und mehr danach, mitfühlend zu sein. Denn Mitgefühl schließt niemanden aus – nicht einmal uns selbst.
English version below
Compassion Instead of Love: A Conversation with Norbu from Schechen Monastery
Yesterday, I had the good fortune to speak with Norbu, a Buddhist monk from Schechen Monastery in Kathmandu, about a topic that affects us all: love. Norbu surprised me right away when he said that love, as we usually understand it, is limited. It is often conditional and tied to the feeling of “happiness.”
He explained it like this: We feel “happy” because we love our daughter, our partner, or our friends. That feeling arises from positive connections and shared experiences with these people. But what about someone who has hurt us? A foe, or even a criminal? Can we speak of love in such cases? Hardly. That’s exactly where love’s limitations appear, according to Norbu. Love is selective—it is directed toward people close to us or whom we regard as “good.”
Norbu went on to say that Buddhist teachings offer something that goes beyond love: compassion. Compassion is unconditional and non-selective. It means seeing every person as a human being, regardless of their behavior or their role in our lives. While love is often personal and dependent on reciprocity, compassion calls us to empathize with others—including those whom we find difficult to tolerate.
Why Compassion Is Stronger Than Love
Norbu made me reflect on why compassion is, in many ways, more universal than love. Love, as we know it, is often transactional. We love someone because they bring us fulfillment or happiness. But what happens when that person disappoints us or no longer meets our expectations? Love can quickly turn to frustration or even rejection.
Compassion, however, requires neither reciprocity nor positive relations. It asks us to recognize the human experience we all share—the desire for happiness, the fear of suffering. A criminal may have committed terrible acts, but he, too, is a human being who suffers under his own conditions. That doesn’t mean we condone or excuse his actions—but it means we don’t have to hate him. Compassion allows us to see the humanity behind the behavior.
Compassion in Relationships
Norbu also said something that particularly moved me: even in our closest relationships, compassion is more important than love. Certainly, we can love our partners, children, or friends—but that love becomes more powerful when tempered with compassion. Compassion means seeing the other in their pain, accepting their imperfections, and not merely focusing on what they give us.
Imagine we have a disagreement with our partner. Love alone might move us to appease the situation or give in. Compassion, on the other hand, invites us to listen deeply—to understand why the other feels the way they do—and to act from that understanding. It creates a connection deeper than simple affection.
A Universal Approach
Norbu’s words still resonate with me. Adopting compassion as a universal approach could defuse many conflicts—in our personal relationships as well as on social and political levels. It reminds us that even the worst person in our eyes is, at root, a human being—with desires, fears, and experiences we don’t know.
This is no easy practice. It demands constant effort and reflection—questioning our own prejudices and resisting our instinct to categorize people as “good” or “evil.” But if we succeed, it opens a new way of seeing the world—one grounded not just in connection but in profound understanding.
Compassion as a Practice
Norbu showed me that compassion is not just a nice idea—it’s a real practice. And the more I reflect on it, the more I believe that compassion can truly be the foundation of a more peaceful and meaningful life. Perhaps we should strive less to love and more to be compassionate. Because compassion excludes no one—not even ourselves.