Nepal – Eine zerrissene Welt zwischen Gemeinschaft und Individualität

8:00 Uhr. Kathmandu erwacht im goldenen Licht der Sonne, die den allgegenwärtigen Dunst über dem Tal durchbricht. Die Temperatur klettert rasch auf angenehme 20 Grad, um bei Sonnenuntergang ebenso schnell auf frostige 5 Grad zu fallen. Ein täglicher Rhythmus, den ich inzwischen zu schätzen weiß – wenn ich nur jedes Mal an meinen Pulli denken würde.

Der Mittwoch begann mit einem Besuch des Vishnu-Tempels in Budhanilkantha. Für Yeshi ist dieser Ort von tiefer Bedeutung. Hier suchte sie oft Trost und Ruhe, wenn das Leben zu viel wurde. Der Tempel ist ein spiritueller Anker inmitten des Trubels Kathmandus. Für mich ist er ein Ort der Erinnerung: 2017 begegnete ich Yeshi hier zum ersten Mal, nachdem sie das Kloster verlassen hatte. Mein Freund Rudolf, der mich damals begleitete, spricht noch heute von der tränenreichen Begrüßung und der Orchidee, die Yeshis Vater ihm aus dem Garten grub. Diese Orchidee blüht nun jedes Jahr in Itzehoe und ist ein lebendiges Zeugnis der Verbundenheit.

Von dort führte unser Weg zur Hello Kids Academy, dem Montessori-Kindergarten, in dem Yeshi bis zu ihrem Aufenthalt auf Zypern als Erzieherin arbeitete. Die Wiedersehensfreude war überwältigend. Während ich mich auf die Gespräche mit der Geschäftsführung konzentrierte, zog Yeshi durch die vier Kindergartengruppen und fünf Klassen. Die Kinder jubelten, umarmten sie und ließen ihre Freude lautstark spüren. Es war herzerwärmend, doch für mich auch anstrengend. Wo mich die Begeisterung bald überforderte, schöpfte Yeshi neue Energie. Ihre Verbindung zu den Kindern ist einzigartig.

Der Schulleiter bat mich, in den kommenden Wochen Workshops für seine Lehrer:innen anzubieten – ein Austausch zwischen Waldorf- und Montessori-Pädagogik.

Ein Zuhause ohne Rückzugsorte

Abends besuchen wir Yeshis Mutter in ihrem winzigen Zimmer im Nordosten von Budhanilkantha. Vielleicht 20 Quadratmeter misst ihr Reich – ein Raum, der gleichzeitig Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche ist. Die Tür steht immer offen, nur ein Vorhang mit buddhistischen Symbolen schützt ein wenig vor neugierigen Blicken. Doch „Privatsphäre“ ist hier ein seltenes Gut. Ständig kommen Nachbarn vorbei, schauen durchs Fenster oder treten ungefragt ein, um zu plaudern, zu essen oder einfach nur da zu sein.

Anfangs empfand ich diese Offenheit als charmant – ein wohltuender Kontrast zur Anonymität westlicher Nachbarschaften. Doch als Yeshi und ich uns nach einem anstrengenden Tag ausruhen wollten und neugierige Gesichter durchs Fenster blickten, wurde mir klar: Hier gibt es keinen Rückzugsort. Für Yeshi, die lernen und studieren möchte, erscheint diese Umgebung schlicht unmöglich.

Yeshis Mutter verbringt ihre Tage damit, sich um den 16 Monate alten Enkel zu kümmern. Sobald Sarina, Yeshis Schwester, oder deren Mann von der Arbeit heimkehren, wechselt das Kind die Arme, und die Mutter beginnt, das Abendessen zuzubereiten. Die kleine Kochstelle mit zwei Gaskochfeldern, ein Wassertank und eine Spülwanne – alles hat seinen festen Platz, alles ist ordentlich verstaut. Es erinnert an ein Campingleben, doch hier ist es Alltag, kein Abenteuer.

Die sanitären Bedingungen sind minimalistisch: Drei Gemeinschaftstoiletten mit französischen WCs für zehn Familien, Duschen gibt es keine. Warmes Wasser wird im Zimmer erhitzt und mitgenommen.

Gemeinschaft vs. Privatsphäre

In dieser Umgebung zählt die Gemeinschaft mehr als das Individuum. Jeder kennt jeden, die Familie steht über allem. Doch genau das macht es für Yeshi schwer. „Sie lachen mich an, aber ich weiß, was sie über mich denken,“ sagte sie mir am ersten Abend. Ihre Rückkehr nach Nepal – Monate vor Ablauf ihres Vertrags in Zypern – wird kritisch beäugt. Sie durchbrach die unausgesprochenen Regeln: Männer sorgen für die Familie, und wenn sie es nicht können, übernehmen die Kinder. Yeshi hat diesen Erwartungen den Rücken gekehrt – eine mutige, aber auch einsame Entscheidung.

Die zerrissene Welt zwischen Nepal und dem Westen

Nepal und der Westen – zwei Welten, so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Während wir im Westen das Individuum preisen, gilt hier die Familie als höchstes Gut. Doch was ist mit jenen, die in ihrer Gemeinschaft keine Luft zum Atmen finden? Oder mit denen, die im Westen familiären Halt vermissen? Wir alle leben in zerrissenen Welten, immer auf der Suche nach einem besseren „Anderswo“. „The grass on the other side of the hill is always greener,“ heißt es. Doch ist es das wirklich?

Ein Ort der Zuflucht

Es ist Freitagmorgen. Gestern suchte ich nach einer Unterkunft für den Rest meines Aufenthalts. Ich fand ein kleines Haus in einer Ferienanlage – drei Appartements, zwei Häuser. 600 Euro Miete im Monat. Ein exorbitanter Betrag in nepalesischen Verhältnissen, wo Yeshis Mutter 34 Euro für ihr Zimmer zahlt und eine Erzieherin kaum mehr als 120 Euro im Monat verdient.

Für mich ein Rückzugsort, aber nicht für Yeshi. Ihre Reise zurück nach Nepal ist mehr als eine Heimkehr. Es ist ein Versuch, sich selbst zu behaupten, in einer Gesellschaft, die ihre Rolle längst definiert hat. Doch Yeshi hat den Mut, diesen Rahmen zu sprengen. Und ich werde sie dabei begleiten.

Wahre Lebensfreude liegt nicht in Perfektion

Ich denke an die letzten Worte aus dem Film „Dschungelkind“ – es könnten meine Worte sein:

„Es gibt keine perfekte Welt, weder im Dschungel noch in Deutschland. Denn wahres Lebensglück liegt nicht in der Perfektion, sondern bei denen, die wir lieben, die uns schützen und die uns treu sind. Es ist dort, wo unser Herz glücklich ist.“

Für Yeshi ist es ein langer Weg, aber sie geht ihn mit Mut.