Selbstachtung inmitten von Lügen und Verlusten
Unser letzter Morgen auf Zypern begann ruhig und warm. Nach dem Frühstück beschlossen Yeshi und ich, noch einen kleinen Spaziergang durch den Ort oberhalb unseres Hotels zu machen. Der Ortskern war wunderschön saniert, die alten Häuser strahlten mit frischen Fassaden, und in den schmalen Straßen lag eine besondere Stille. Auf dem zentralen Platz, hinter der kleinen Dorfkirche, fanden wir eine Marmorbank und setzten uns. Die Sonne wärmte das Gestein, und für einen Moment waren wir beide in Gedanken versunken.
Yeshi sprach schließlich von Dicki, einer weiteren Nonne aus Nepal, die jetzt in Frankreich lebt. Dicki war über das Netz eines Vermittlungsagenten als angebliche tibetische Flüchtlingin dorthin gekommen, ausgestattet mit einer perfekt inszenierten Hintergrundgeschichte. Dieser Trick wäre auch Yeshi möglich gewesen, doch sie hatte abgelehnt. „Noch eine Lüge ertrage ich nicht,“ sagte sie leise, aber bestimmt. Für sie bedeutete es, eine untragbare Fassade aufzubauen, die sie für immer belasten würde.
Die Worte ließen mich nicht los, denn auch ich kenne das Bedürfnis, Teile der eigenen Geschichte zu verbergen, um von anderen akzeptiert zu werden. Für Yeshi wäre der Weg nach Europa vielleicht leichter gewesen, doch ihre Entscheidung, bei der Wahrheit zu bleiben, war ein stiller Protest gegen das System und eine Art, sich selbst treu zu bleiben.
Auf dem Rückweg zum Hotel kamen wir an einem Atelier vorbei, dessen leuchtende Bilder in den Fenstern uns einluden, hineinzusehen. Der Künstler war anwesend, ein älterer Mann mit ruhigem Blick und einem Lächeln, das von Lebenserfahrung sprach. Seine Werke waren farbenprächtig und kraftvoll, doch etwas an ihnen machte sie zugleich bedrückend. Die Gesichter der Figuren waren leer, die Augen fehlten – als ob die Personen darin sich selbst verloren hätten.
Ich fragte ihn, ob er alle Bilder selbst gemalt habe. „Nicht alle,“ antwortete er, „aber diese hier sind meine.“ Er zeigte uns eine Reihe von Gemälden, die auf alten Schwarz-Weiß-Fotos seines Vaters basierten. „Das ist mein Vater,“ erklärte er und deutete auf eine Gestalt in einem der Bilder, „zusammen mit drei Freunden aus diesem Dorf, kurz bevor sie 1939 nach Südafrika aufbrachen.“ Er erzählte, dass sein Vater mit diesen Männern dem Zweiten Weltkrieg entflohen war, nur um sich in einem fremden Land einer neuen Unsicherheit zu stellen.
Selbst in diesem lichtdurchfluteten Raum war die Schwere der Geschichten spürbar, die in den Farben seiner Bilder steckten. Der Maler erzählte uns von seiner Kindheit in Südafrika und von der wachsenden Kriminalität, die seine Familie schließlich zur Rückkehr nach Zypern zwang. Eines Tages, erzählte er uns, hielt ihm jemand eine Waffe an die Schläfe – und seiner Frau und seinem Sohn erging es genauso. Da wussten sie, dass es Zeit war zu gehen. „Zum Glück hatten wir noch die zypriotische Staatsangehörigkeit,“ sagte er leise. Dieser letzte Ankerpunkt in seiner Heimat gab ihm die Möglichkeit, der Gewalt zu entkommen und ein neues Leben in Frieden zu beginnen. Hinter seiner freundlichen Fassade schimmerte eine tiefe Tragödie hervor – die Geschichte eines Mannes, der zur Flucht in sein Vaterland gezwungen war und in der Kunst sein Ankommen gefunden hatte.
Als wir uns verabschiedeten, sagte er: „Ich sorge mich um meine Enkel, die in einer Welt aufwachsen, die immer unsicherer wird.“ Diese Worte hallten nach, während wir das Atelier verließen, als wäre die helle Fassade dieses kleinen Dorfs nur ein dünner Schleier, der die darunterliegende Zerbrechlichkeit verdeckte.
Zurück im Hotel holte Yeshi ihre Sachen aus ihrem Zimmer und kam noch einmal zu mir. Auf dem Weg begegnete sie der älteren Putzfrau, die jeden Tag den Hof fegt und die Zimmer reinigt. Yeshi hatte mir schon zuvor von ihr erzählt – dass die Frau für sie ein Vorbild sei, eine Mahnung, wie ihr eigenes Leben nicht enden sollte. Und doch lag in Yeshis Blick kein Mitleid, sondern ehrlicher Respekt. Sie nahm 20 Euro aus ihrer Tasche und drückte sie der Frau in die Hand. „Für dich,“ sagte sie sanft, begleitet von freundlichen Worten, die die Frau zwar nicht verstand, aber als Geste herzlich annahm. Später, auf der Fahrt nach Limassol, fragte ich Yeshi, ob 20 Euro für sie nicht zu viel seien. Sie lächelte nur und sagte: „Es ist nicht, was du hast, sondern was du gibst.“
Diese Worte begleiteten mich, bis wir Limassol um 13 Uhr erreichten. Uns blieben noch zwei Stunden für ein letztes gemeinsames Mittagessen am Strand.
Die Brise war mild, das Meer ruhig, und die Zeit verging viel zu schnell. Während wir das Mittagessen teilten, dachte ich an die Begegnungen dieses Morgens – an den Maler, an die alte Putzfrau und an Yeshi, die all das mit einer stillen, tiefen Großzügigkeit betrachtet. Sie hat mir in diesen Tagen auf Zypern mehr über das Geben und über die Kunst des Mitgefühls gezeigt, als Worte ausdrücken können. Wenn ich heute an Yeshi denke, dann sehe ich eine Frau, die mehr Stärke besitzt, als die meisten Menschen je begreifen könnten – eine Stärke, die aus dem Wissen kommt, dass es nicht das ist, was wir haben, sondern das, was wir bereit sind zu geben, das unser Leben wertvoll macht.
Self-esteem in the midst of lies and losses
Our last morning in Cyprus began quietly and warmly. After breakfast, Yeshi and I decided to take a short walk through the village above our hotel. The centre of the village had been beautifully restored, the old houses shone with fresh facades, and there was a special silence in the narrow streets. On the central square, behind the small village church, we found a marble bench and sat down. The sun warmed the stone, and for a moment we were both lost in thought.
Yeshi finally spoke of Dicki, another nun from Nepal who now lives in France. Dicki had come there via an agent as an alleged Tibetan refugee, with a perfectly staged background story. This trick would also have been possible for Yeshi, but she had refused. ‘I can’t bear another lie,’ she said softly but firmly. For her, it meant building an unbearable façade that would weigh on her forever.
The words haunted me, because I too know the need to hide parts of my own story in order to be accepted by others. For Yeshi, the route to Europe might have been easier, but her decision to stick to the truth was a silent protest against the system and a way of remaining true to herself.
On our way back to the hotel, we passed a studio with bright paintings in the windows that invited us in. The artist, an older man with a calm gaze and a smile that spoke of life experience, was present. His works were colourful and powerful, but something about them made them oppressive at the same time. The faces of the figures were empty, the eyes missing – as if the people inside had lost themselves.
I asked him if he had painted all the pictures himself. ‘Not all of them,’ he replied, ‘but these are mine.’ He showed us a series of paintings based on old black-and-white photographs of his father. ‘That’s my father,’ he explained, pointing to a figure in one of the pictures, ‘together with three friends from this village just before they left for South Africa in 1939.’ He explained that his father had fled the Second World War with these men, only to face a new insecurity in a foreign country.
Even in this light-flooded room, the gravity of the stories told by the colours in his pictures was tangible. The painter told us about his childhood in South Africa and the growing crime rate that eventually forced his family to return to Cyprus. One day, he told us, someone put a gun to his temple – and his wife and son experienced the same. That was when they knew it was time to leave. ‘Luckily, we still had Cypriot citizenship,’ he said quietly. This last anchor point in his homeland gave him the opportunity to escape the violence and start a new life in peace. Behind his friendly façade, a deep tragedy shimmered – the story of a man who was forced to flee to his fatherland and had found his arrival in art.
As we said goodbye, he said, ‘I worry about my grandchildren, who are growing up in a world that is becoming increasingly unsafe.’ These words echoed as we left the studio, as if the bright façade of this small village were just a thin veil hiding the underlying fragility.
Back at the hotel, Yeshi went to get her things from her room and came back to me. On the way, she met the elderly cleaning lady who sweeps the courtyard and cleans the rooms every day. Yeshi had told me about her before – how she sees the woman as a role model, a warning of how her own life should not end. And yet there was no pity in Yeshi’s eyes, but honest respect. She took 20 euros out of her pocket and pressed it into the woman’s hand. ‘For you,’ she said gently, accompanied by friendly words that the woman did not understand but accepted warmly as a gesture. Later, on the drive to Limassol, I asked Yeshi if 20 euros wasn’t too much for her. She just smiled and said, ‘It’s not what you have, but what you give.’
These words stayed with me until we reached Limassol at 1 p.m. We had two hours left for a last lunch together on the beach.
The breeze was mild, the sea calm, and the time passed far too quickly. As we shared lunch, I thought of the encounters of that morning – of the painter, of the old cleaning lady and of Yeshi, who views all of this with a quiet, deep generosity. She has shown me more about giving and the art of compassion in these days in Cyprus than words can express. When I think of Yeshi today, I see a woman who has more strength than most people could ever comprehend – a strength that comes from knowing that it is not what we have, but what we are willing to give that makes our lives valuable.