Sprache als Schleier und zweite Haut

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Heute Morgen dachte ich an einen Freund im Zen-Kloster. Er schrieb mir: „Ich versuche, mich weniger mit Grübeln als mit Tun in meiner Welt zu orientieren.“ Diese Haltung – weniger Denken, mehr Tun – gehört zu jener Welt, die mich seit meiner Jugend anzieht. Seit ich zum ersten Mal klassische indische Musik hörte, begleitet mich ein seltsames Gefühl: Bin ich in der falschen Kultur aufgewachsen?

Es gibt Menschen, die sagen: Ich stecke im falschen Körper. Biologisch lässt sich das erklären. Doch was ist es, wenn man sich im falschen kulturellen Körper wiederfindet? Wenn die Sprache, die Gesten, die Selbstverständlichkeiten der Umgebung nicht zu dem passen, was das eigene Innere als wahr empfindet?

Beim Erlernen des Nepali und der Devanagari-Schrift spüre ich: Sprache kann zur zweiten Haut werden. Nicht nur der Satzbau (Subjekt–Objekt–Verb) ist anders, auch die Anrede färbt jede Aussage. „Ich warte auf Dich“ – im Nepali kann dieses „Dich“ vertraut, respektvoll, liebevoll oder beiläufig klingen. Ein winziges Wort – und doch eine ganze Haltung.

Auffällig ist auch, was man in Nepali seltener sagt. Worte wie „Danke“ oder „Ich liebe Dich“ klingen dort schnell gekünstelt, fast aufgesetzt. Stattdessen zeigt man Dankbarkeit im Handeln: indem man teilt, hilft, aufmerksam zuhört. Liebe drückt sich eher in Fürsorge aus als in Worten. Auch Glückwünsche sind oft weniger überschwänglich als im Westen, Komplimente knapper – und trotzdem spürt man im Alltag eine tiefe Herzlichkeit. Sprache schweigt manchmal, wo das Tun deutlicher spricht.

Heidegger sprach von der Sprache als dem „Haus des Seins“. Doch Häuser können sich fremd anfühlen – leer, kalt, zu eng. Manche Sprachen öffnen uns Räume, andere verschließen sie. Wer eine neue Sprache lernt, zieht nicht nur ein anderes Kleid an, er betritt ein anderes Haus – und entdeckt vielleicht, dass dieses Haus längst sein Zuhause ist.

Die Schrift selbst verstärkt diesen Eindruck. Devanagari1 ist kein bloßes Alphabet, sondern ein Silbensystem. Manche Zeichen schweben über der Zeile, andere verschmelzen zu Ornamenten. Wer sie schreibt, zeichnet kleine Bewegungen des Geistes nach. Schreiben wird zu einer körperlichen Praxis – wie Atmen oder Meditieren.

Je länger ich mich in dieser Sprache bewege, desto mehr zieht sich der Schleier zurück. Diese Welt, die mich lange magisch anzog, wird mir zur zweiten Haut. Nicht nur intellektuell, sondern existenziell.

Auch andere Sprachen zeigen, wie sehr sie Lebenswelten prägen:

  • Im Japanischen spiegelt die Grammatik Hierarchie und Respekt.
  • Im Arabischen öffnet ein „Inshallah“ den Blick in die Transzendenz.
  • Im Englischen verwandelt ein schlichtes „sorry“ den Alltag in Rücksicht – nicht Reue.

Sprache ist nicht nur Kommunikation. Sie ist eine Hermeneutik. Sie deutet Welt, öffnet Sinnräume, schließt andere. Wer in einer Sprache lebt, wohnt in einem Haus des Seins. Und manchmal merkt man: Das Haus, in dem man geboren wurde, war nur ein Provisorium. Erst später findet man das Haus, in dem man heimisch wird.

Und so erkenne ich: Heimat ist kein Ort. Heimat ist die Sprache, in der mein Herz frei schlagen darf.

1 Devanagari ist eines der ältesten noch gebräuchlichen Schriftsysteme. Ursprünglich aus der Brahmi-Schrift entwickelt, wird sie heute für Sanskrit, Hindi, Nepali, Marathi und weitere Sprachen verwendet. Ihre Zeichen sind Silbenzeichen – und wirken dadurch zugleich poetisch und präzise.


English version below


Language as Veil and Second Skin

This morning I thought of a friend in a Zen monastery. He wrote to me: “I try to orient myself less by brooding and more by doing.” This attitude – less thinking, more action – belongs to the world that has drawn me since my youth. Ever since I first heard classical Indian music, a strange feeling has followed me: did I grow up in the wrong culture?

Some people say: I am in the wrong body. Biology can explain that. But what does it mean to feel caught in the wrong cultural body? When the language, the gestures, the everyday habits around you do not match what your inner being knows to be true?

As I learn Nepali and the Devanagari script, I sense: language can become a second skin. It is not only the word order (subject–object–verb) that differs; even the way you address another person colors every sentence. “I am waiting for you” – in Nepali this “you” can sound intimate, respectful, affectionate, or casual. A tiny word – and yet an entire attitude.

Equally striking is what is said less often. Words like “thank you” or “I love you” can sound artificial, almost staged, in Nepali. Gratitude is shown instead through action: by sharing, helping, or listening attentively. Love is expressed through care and presence more than through words. Congratulations are often less effusive than in the West, compliments more reserved – and yet everyday interactions radiate warmth. Where words fall short, action speaks with greater clarity.

Heidegger once called language the “house of being.” But houses can feel alien – empty, cold, too narrow. Some languages open rooms for us, others close them off. Learning a new language is not just slipping into another garment; it is entering another house – and perhaps discovering that this house has been your home all along.

The script itself reinforces this impression. Devanagari1 is not a mere alphabet but a syllabic system. Some characters hover above the line, others fuse into ornaments. Writing them traces subtle movements of the mind. It turns into a bodily practice – like breathing or meditating.

The longer I dwell in this language, the more the veil is lifted. This world, which once only fascinated me from a distance, becomes a second skin. Not only intellectually, but existentially.

Other languages reveal how profoundly they shape ways of life:

  • In Japanese, grammar encodes hierarchy and respect.
  • In Arabic, a simple “Inshallah” opens a horizon of transcendence.
  • In English, the everyday “sorry” often conveys consideration, not remorse.

Language is not just communication. It is hermeneutics. It interprets the world, opens spaces of meaning, and closes others. To live in a language is to dwell in a house of being. And sometimes you realize: the house you were born into was only a temporary shelter. Only later do you find the house where you truly belong.

And so I understand: home is not a place. Home is the language in which my heart can beat freely.

1 Devanagari is one of the oldest scripts still in use. Developed from the ancient Brahmi script, it is today used for Sanskrit, Hindi, Nepali, Marathi, and several other languages. Its characters are syllabic signs – poetic and precise at once.