Überlegungen zur Menschlichkeit: Eine Inspiration aus Mingyur Rinpoches Lehre

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Heute erhielt ich eine Nachricht von meinem Freund in Hamburg, die mich sehr berührte. Er schrieb:

„Ich habe in deinem Buch viel über mich und meine Haltung in der Welt gelernt – über den menschlichen Hang, sich in Frage zu stellen und gleichzeitig sich anderen überlegen zu fühlen. Darüber nachzudenken bringt mir viele Einsichten.“

Das Buch, von dem er spricht, ist Joyful Wisdom von Mingyur Rinpoche – einem tibetischen Meditationsmeister, dessen Lehren mein eigenes Denken tief geprägt haben. Es freut mich zu hören, dass diese Weisheiten auch für meinen Freund zu einem Spiegel geworden sind, in dem er sich selbst und die menschliche Natur besser erkennen kann. In diesem Blogpost möchte ich die Botschaft von Mingyur Rinpoche etwas näher beleuchten und die Dzogchen-Lehre vorstellen, die seiner Philosophie zugrunde liegt.

Wer ist Mingyur Rinpoche?

Mingyur Rinpoche ist ein tibetischer Lama und Meditationslehrer, der in der Tradition des tibetischen Buddhismus aufgewachsen ist. Bereits in jungen Jahren wurde er für seine außergewöhnlichen Fähigkeiten in der Meditation und seine tiefen Einsichten in die Natur des Geistes bekannt. Doch was ihn für viele Menschen so zugänglich macht, ist seine Offenheit über eigene Herausforderungen: In seiner Jugend litt er unter lähmender Angst und Panikattacken – eine Erfahrung, die er schließlich durch Meditation überwand.

Seine Bücher, wie Joyful Wisdom oder In Love With the World, verbinden tiefgründige buddhistische Weisheiten mit einem modernen, lebensnahen Ansatz. Besonders beeindruckend ist sein Humor und seine Fähigkeit, komplexe spirituelle Konzepte in einfachen, verständlichen Worten zu erklären.

Der menschliche Hang zu Selbstzweifel und Überheblichkeit

In Joyful Wisdom beschreibt Mingyur Rinpoche, wie wir Menschen oft zwischen zwei Extremen schwanken: Selbstzweifel und Überheblichkeit. Einerseits hinterfragen wir uns ständig: Bin ich gut genug? Mache ich das Richtige? Andererseits suchen wir Halt, indem wir uns überlegen fühlen: Ich bin besser als die anderen, ich habe die Kontrolle. Beide Haltungen – die Selbstabwertung und das Sich-erheben – entstehen aus dem Wunsch, Sicherheit in einer unsicheren Welt zu finden.

Mingyur Rinpoche lädt uns ein, diese Muster zu durchschauen. Er zeigt, dass sowohl Selbstzweifel als auch Überheblichkeit aus einem Missverständnis über unsere wahre Natur entstehen. In der Dzogchen-Lehre, die er lehrt, liegt der Schlüssel darin, diese Mechanismen mit Achtsamkeit und Mitgefühl zu betrachten – und zu erkennen, dass unsere wahre Natur bereits vollkommen und frei ist.

Was ist die Dzogchen-Lehre?

Dzogchen, was übersetzt „die große Vollkommenheit“ bedeutet, ist eine der höchsten Lehren des tibetischen Buddhismus. Sie zielt darauf ab, uns direkt zur Natur unseres Geistes zu führen. Anders als viele spirituelle Systeme, die auf Fortschritt und schrittweise Entwicklung setzen, geht Dzogchen davon aus, dass unser Geist von Natur aus rein und erleuchtet ist. Es geht nicht darum, etwas hinzuzufügen oder zu verbessern, sondern darum, das bereits Vorhandene zu erkennen.

Mingyur Rinpoche erklärt dies oft mit einer Wolkenmetapher: Unsere Gedanken, Zweifel und Emotionen sind wie Wolken, die vor der Sonne vorbeiziehen. Die Sonne – unsere wahre Natur – scheint immer, auch wenn sie durch die Wolken verdeckt ist. Dzogchen lehrt uns, die Wolken nicht zu bekämpfen, sondern zu erkennen, dass sie vorübergehend sind. Diese Einsicht führt zu tiefer Gelassenheit und innerem Frieden.

Was bedeutet das für uns im Alltag?

Die Lehren von Mingyur Rinpoche können uns helfen, unser ständiges Streben nach Perfektion loszulassen und stattdessen die Schönheit des Augenblicks zu schätzen. Sie zeigen uns, dass wir weder unseren Selbstzweifeln noch unserer Überheblichkeit blind folgen müssen. Stattdessen können wir lernen, uns selbst und die Welt mit Mitgefühl und Klarheit zu betrachten.

Für meinen Freund in Hamburg hat dieses Nachdenken bereits zu Einsichten geführt – ein Beweis dafür, wie kraftvoll diese Lehren sind. Auch für mich, hier in Nepal, wo ich täglich die Kontraste zwischen den Welten erlebe, ist Mingyur Rinpoches Perspektive eine Quelle der Inspiration: Heimat, Frieden und Klarheit finden wir nicht im Außen, sondern in der einfachen, aber tiefen Erkenntnis, dass unser Geist bereits vollkommen ist.

Vielleicht ist dies die größte Lektion, die ich aus seinen Lehren ziehen konnte – und die ich mit euch teilen möchte: Die Reise zu uns selbst ist keine Suche nach etwas Neuem. Es ist eine Heimkehr zu dem, was wir immer schon waren.

Dzogchen, Mingyur Rinpoche …

Budhanilkantha, mein aktueller Aufenthaltsort, ist nicht nur ein Tor zum Shivapuri-Nationalpark, sondern liegt auch unweit von Nagi Gumba, einem Kloster mit tiefer Verbindung zur buddhistischen Meditationspraxis und zur Linie von Mingyur Rinpoche. Mingyur Rinpoches Vater, Tulku Urgyen Rinpoche, ein hoch verehrter Meister der tibetischen Dzogchen- und Mahamudra-Lehren, verbrachte viele Jahre in der Nähe, auf dem Gelände des Klosters bei der Nagi Gumba. Dieser Ort war nicht nur ein Rückzugsraum für seine Meditationen, sondern auch ein Zentrum, an dem seine Lehren weitergegeben wurden.

Diese Tradition der Bildung und spirituellen Praxis findet sich auch im Arya Tara Kloster, das von Ani Choying Dolma gegründet wurde. Ani Choying, die selbst Schülerin von Tulku Urgyen Rinpoche war, widmete sich mit dem Kloster nicht nur dem spirituellen Leben, sondern auch der Ausbildung und Emanzipation von jungen Frauen wie Yeshi. Dass Yeshi in diesem Kloster ihre Schulbildung erhielt, schafft eine persönliche Verbindung zwischen mir, meinem aktuellen Aufenthalt in Budhanilkantha, und der Linie von Mingyur Rinpoche, die durch seinen Vater und dessen Schülerinnen – wie Ani Choying Dolma – in diesen Orten lebendig bleibt.

Die räumliche Nähe dieser Orte erinnert mich daran, wie sehr meine eigene Reise mit diesen spirituellen Traditionen verwoben ist. Hier, wo ich die Kontraste zwischen westlicher Lebensweise und buddhistischen Weisheiten erlebe, fühle ich mich mit der Geschichte von Yeshi und den Lehren von Mingyur Rinpoche auf eine Weise verbunden, die über bloße Zufälle hinauszugehen scheint.


English version below


Reflections on Humanity: Inspired by the Teachings of Mingyur Rinpoche

Today I received a message from my friend in Hamburg that deeply moved me. He wrote:

“I’ve learned a lot about myself and my stance in the world from your book – about the human tendency to question oneself while feeling superior to others. Reflecting on that brings me many insights.”

The book he refers to is Joyful Wisdom by Mingyur Rinpoche – a Tibetan meditation master whose teachings have profoundly shaped my own thinking. It touches me to hear that these insights have become a mirror for my friend, allowing him to better understand himself and human nature. In this post, I’d like to explore Mingyur Rinpoche’s message further and introduce the Dzogchen teaching at the heart of his philosophy.

Who is Mingyur Rinpoche?

Mingyur Rinpoche is a Tibetan lama and meditation teacher raised in the tradition of Tibetan Buddhism. From an early age, he became known for his extraordinary meditation skills and profound insight into the nature of the mind. What makes him so approachable, however, is his openness about personal challenges: in his youth, he suffered from crippling anxiety and panic attacks—an experience he ultimately overcame through meditation.

His books, such as Joyful Wisdom and In Love With the World, combine deep Buddhist wisdom with a modern, relatable approach. Especially impressive is his humor and ability to explain complex spiritual concepts in simple, accessible language.

The Human Tendency Toward Self-Doubt and Arrogance

In Joyful Wisdom, Mingyur Rinpoche describes how we often swing between two extremes: self-doubt and arrogance. On the one hand, we constantly question ourselves: Am I good enough? Am I doing the right thing? On the other, we seek stability by feeling superior: I’m better than others, I’m in control. Both attitudes—self-devaluation and self-aggrandizement—stem from a desire to feel safe in an uncertain world.

Mingyur Rinpoche invites us to recognize and transcend these patterns. He shows that both self-doubt and arrogance arise from a misunderstanding of our true nature. In Dzogchen, the teaching he shares, the key lies in viewing these mechanisms with mindfulness and compassion—and realizing that our true nature is already whole and free.

What is Dzogchen?

Dzogchen, which translates as “Great Perfection,” is one of the highest teachings in Tibetan Buddhism. It aims to bring us directly to the nature of our mind. Unlike many spiritual systems that emphasize progress and gradual development, Dzogchen assumes that our mind is innately pure and enlightened. The goal is not to add or improve, but to recognize what is already present.

Mingyur Rinpoche often explains this using a metaphor of clouds: our thoughts, doubts, and emotions are like clouds passing before the sun. The sun—our true nature—is always shining, even if temporarily obscured. Dzogchen teaches us not to fight the clouds, but to see that they are passing. This insight leads to deep serenity and inner peace.

What Does This Mean for Daily Life?

Mingyur Rinpoche’s teachings can help us release our constant striving for perfection and instead appreciate the beauty of the present moment. They show us that we need not blindly follow our self-doubt or arrogance. Rather, we can learn to view ourselves and the world with compassion and clarity.

For my friend in Hamburg, this reflection has already led to new insights—a testament to how powerful these teachings are. For me, here in Nepal, where I experience the contrast between worlds every day, Mingyur Rinpoche’s perspective is a source of strength: home, peace, and clarity are not found outside, but in the simple yet profound realization that our mind is already complete.

Perhaps this is the greatest lesson I’ve drawn from his teachings—and the one I wish to share: the journey to ourselves is not a search for something new. It’s a homecoming to what we have always been.

Dzogchen, Mingyur Rinpoche …

Budhanilkantha, where I currently stay, is not only the gateway to Shivapuri National Park but also close to Nagi Gumba—a monastery deeply connected to the meditation tradition and Mingyur Rinpoche’s lineage. His father, Tulku Urgyen Rinpoche, a highly revered master of Dzogchen and Mahamudra, spent many years in retreat at the monastery grounds. It became both his place of practice and a center of transmission for his teachings.

This tradition of spiritual education continues in the Arya Tara monastery, founded by Ani Choying Dolma, a student of Tulku Urgyen Rinpoche. With this monastery, she dedicated herself not only to spiritual life but also to the education and empowerment of young women like Yeshi. That Yeshi received her education at this monastery creates a personal connection between me, my current stay in Budhanilkantha, and Mingyur Rinpoche’s lineage—kept alive through his father and disciples like Ani Choying Dolma.

The geographical closeness of these places reminds me how deeply my own journey is intertwined with these spiritual traditions. Here, where I witness the contrasts between Western life and Buddhist wisdom, I feel connected to Yeshi’s story and Mingyur Rinpoche’s teachings in a way that seems far from coincidental.