Vom Fragen und Wachsen – oder wie ich lernte, mir selbst ein guter Begleiter zu sein

Ich bin 68 Jahre alt, seit kurzem im Ruhestand und lebe seit einigen Monaten in Nepal – einem Land, das mich täglich daran erinnert, dass ich als Mensch nicht festgelegt bin. Ich bin nicht nur das Ergebnis meiner Vergangenheit, sondern auch ein Wesen mit Zukunft. Ein Wesen, das sich immer wieder neu entwerfen kann – und vielleicht auch muss, wenn es lebendig bleiben will.

Neuanfang ohne Abrechnung

Ich habe ein gutes, erfülltes Leben geführt – mit Menschen, die mir nah sind, mit Aufgaben, die mich gefordert und geprägt haben, mit Momenten der Freude und auch des Zweifels. Doch ich merke, dass ich in dieser neuen Lebensphase wieder neugierig geworden bin – neugierig auf mich selbst. Es ist, als hätte ich eine Tür geöffnet, die lange geschlossen war, und dahinter liegt ein Raum voller Fragen: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr die Rolle des Arbeitenden, des Vaters, des Ehemanns ausfülle? Was bleibt von mir, wenn all die äußeren Schichten abfallen?

Mein Körper scheint diese Veränderung schon vor mir gespürt zu haben. In den letzten Monaten hat er entschieden, das Übergewicht abzubauen, den Blutdruck zu senken und mir eine Energie zu schenken, die ich seit Jahren nicht mehr gespürt habe. Es ist, als hätte mein Körper gesagt: „Worauf wartest du? Wir haben noch was vor!“ – und ich musste mich wohl oder übel anschließen. Vielleicht hat er recht. Vielleicht ist es Zeit, die alten Fragen neu zu stellen – und dabei auch ein paar alte Antworten über Bord zu werfen.

Freiheit, ohne sich selbst zu verlieren

Aber so sehr ich diese neugewonnene Lebendigkeit auch schätze, so klar ist mir, dass Freiheit nicht ohne Verantwortung kommt. Kein Mensch lebt für sich allein – auch wenn ich hier in Nepal manchmal von atemberaubenden Bergketten umgeben bin, die einen fast vergessen lassen, dass da draußen andere Menschen sind, die mich brauchen oder zumindest erwarten, dass ich nicht völlig aus ihrem Leben verschwinde.

Und natürlich gibt es da diese leise Stimme, die mich warnt, dass Freiheit nicht mit Flucht verwechselt werden sollte. Selbst wenn die Aussicht vom Himalaya atemberaubend ist, bleibt die Frage: „Was mache ich mit dieser neuen Perspektive, wenn ich irgendwann wieder in meinem Wohnzimmer sitze und auf einen grauen Himmel starre?“

Ich glaube, es gibt einen Weg, frei zu sein, ohne rücksichtslos zu werden. Einen Weg, der uns erlaubt, neu zu beginnen, ohne die Menschen, die uns geprägt haben, zu verletzen oder zu enttäuschen. Vielleicht geht es darum, sich selbst nicht nur als Individuum, sondern auch als Teil eines größeren Ganzen zu sehen – als einen Knotenpunkt in einem Netz aus Beziehungen und Erinnerungen, das uns trägt und verbindet.

Das Leben als Frage, nicht als Antwort

Und vielleicht ist die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ gar nicht so wichtig. Vielleicht ist es viel entscheidender, sich die Frage überhaupt zu stellen – jeden Tag neu, mit offenem Herzen und einem klaren Kopf. Vielleicht ist das Geheimnis eines erfüllten Lebens nicht, immer die richtigen Antworten zu haben, sondern den Mut, die unbequemen Fragen nicht zu verdrängen.

Und wenn die Antwort dann mal lautet: „Ich habe keine Ahnung“, dann ist das auch in Ordnung. Vielleicht liegt die Kunst des Lebens nicht darin, immer einen klaren Plan zu haben, sondern darin, den eigenen Kompass auch mal neu auszurichten – selbst wenn das bedeutet, dass man sich auf der Landkarte des Lebens ab und zu verirrt. Schließlich führen nicht alle Wege nach Rom – manche enden in Nepal.

Also frage ich mich: Wer will ich sein? Was macht mich wirklich lebendig? Wie will ich die kommenden Jahre meines Lebens gestalten? Ich weiß, dass ich mir diese Fragen noch oft stellen werde – und ich hoffe, dass ich nie damit aufhöre. Denn solange ich frage, lebe ich. Und solange ich lebe, kann ich mich verändern.

Vielleicht ist das die tiefste Verantwortung, die wir uns selbst und den Menschen um uns herum schulden: nicht nur zu sein, sondern wirklich zu leben – mit allen Risiken, mit allen Höhen und Tiefen, mit all den unbequemen Fragen, die uns wachhalten.

Denn wer will schon am Ende seines Lebens sagen müssen: „Ich habe funktioniert“? Ich jedenfalls nicht.


Asking and growing – or how I learnt to be a good companion to myself

I am 68 years old, recently retired and have been living in Nepal for a few months – a country that reminds me daily that I am not fixed as a human being. I am not only the result of my past, but also a being with a future. A being that can – and perhaps must, if it wants to stay alive – constantly redesign itself.

New beginning without reckoning

I have led a good, fulfilling life – with people who are close to me, with tasks that have challenged and shaped me, with moments of joy and also of doubt. But I realise that I have become curious again in this new phase of my life – curious about myself. It’s as if I’ve opened a door that was closed for a long time, and behind it lies a room full of questions: *Who am I when I no longer fulfil the role of the working person, the father, the husband? What will remain of me when all the outer layers fall away?

My body seems to have sensed this change before I did. In the last few months it has decided to shed the excess weight, lower my blood pressure and give me an energy I haven’t felt in years. It’s as if my body has said: „What are you waiting for? We still have something to do!“ – and for better or worse, I had to go along with it. Maybe he’s right. Maybe it’s time to ask the old questions again – and throw a few old answers overboard in the process.

Freedom without losing yourself

But as much as I appreciate this newfound vitality, I realise that freedom does not come without responsibility. No man lives for himself – even if here in Nepal I am sometimes surrounded by breathtaking mountain ranges that almost make you forget that there are other people out there who need me or at least expect me not to disappear completely from their lives.

And of course, there is that quiet voice that warns me that freedom should not be confused with escape. Even if the view from the Himalayas is breathtaking, the question remains: „What will I do with this new perspective when I’m sitting in my living room again staring at a grey sky? „.

I believe there is a way to be free without becoming reckless. A way that allows us to start over without hurting or disappointing the people who have shaped us. Maybe it’s about seeing yourself not just as an individual, but also as part of a larger whole – as a node in a web of relationships and memories that supports and connects us.

Life as a question, not an answer

And perhaps the answer to the question „Who am I? „ is not so important. Perhaps it is much more important to ask the question at all – every day anew, with an open heart and a clear head. Perhaps the secret to a fulfilled life is not to always have the right answers, but to have the courage not to suppress the uncomfortable questions.

And if the answer is sometimes: „I have no idea „, then that’s okay too. Perhaps the art of life lies not in always having a clear plan, but in realigning your compass from time to time – even if that means getting lost on the map of life from time to time. After all, not all roads lead to Rome – some end in Nepal.

So I ask myself: *Who do I want to be? What makes me truly alive? How do I want to shape the coming years of my life?“ I know that I will ask myself these questions often – and I hope that I never stop. Because as long as I ask, I am alive. And as long as I live, I can change.

Perhaps that is the deepest responsibility we owe ourselves and the people around us: not just being, but really living – with all the risks, with all the ups and downs, with all the uncomfortable questions that keep us awake.

After all, who wants to have to say at the end of their life: „I worked“? I certainly don’t.