Warum wollen wir immer Recht behalten?
Vom Ich, das sich im Wir bewährt – und dem Rechthaben, das uns voneinander trennt
Rechthaben ist mehr als ein intellektueller Akt – es berührt unser Selbstverständnis, unsere Beziehungen, unsere Stellung in der Welt. Was bedeutet es, recht zu haben? Was geschieht, wenn wir uns dabei selbst verlieren? Und was offenbart der Streit über Wahrheit über das Wesen des Menschen?
Rechthaben – ein menschliches Grundbedürfnis?
Der Mensch ringt um Orientierung. In der Auseinandersetzung mit der Welt sucht er Sinn, Sicherheit, Anerkennung. Wenn wir recht haben wollen, dann nicht bloß aus intellektueller Eitelkeit, sondern weil unser Dasein, wie Heidegger sagt, “in der Welt ist” – verwoben, verletzlich, angewiesen auf Resonanz.
Wer Recht bekommt, erfährt sich als gesehen. Die eigene Stimme hat Gewicht. Das Selbst gewinnt Gestalt im Widerhall des Anderen. So ist Rechthaben nie nur eine Sache des Arguments, sondern ein existenzielles Bedürfnis nach Bestätigung im Sein.
Was in uns streitet: Hirn, Ich und Netz
Der Streit, der im Alltag entbrennt, ist selten bloß eine Meinungsverschiedenheit. Er ist auch Ausdruck innerer Zustände. Unser Gehirn, auf Sicherheit programmiert, belohnt Zustimmung mit Wohlgefühl und registriert Widerspruch als Bedrohung.
Im digitalen Raum wird diese Reaktion verstärkt. Die sozialen Medien verengen den Raum hermeneutischer Offenheit. Dort herrscht das Urteil, nicht das Verstehen. Was fehlt, ist der Zwischenraum für Deutung, für Innehalten, für ein echtes Sich-Einlassen auf das Andere.
Streit als Sprachlosigkeit: Was wir wirklich sagen wollen
Marshall Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation lässt sich hermeneutisch lesen als Versuch, dem unausgesprochenen Sinn des Gesagten nachzuspüren. “Du verstehst mich nie!” – das ist weniger ein Vorwurf als ein Ruf nach Verbindung, nach Gehör, nach Dasein im Blick des anderen.
Wer streitet, ringt oft um Anerkennung der eigenen Verletzlichkeit. Der Streit ist dann nicht Verstörung, sondern ein Ruf nach Resonanz.
Wenn wir gewinnen – und trotzdem verlieren
Im Horizont der Beziehung zeigt sich: Das gewonnene Argument kann den verlorenen Menschen nicht ersetzen. Rechthaben, ohne verstanden worden zu sein, ist ein Pyrrhussieg. Der hermeneutische Blick fragt hier nicht: Wer hat recht? Sondern: Was bleibt unausgesprochen? Was wird nicht gehört?
Praktische Schritte:
- Hören, bevor wir sprechen.
- Fragen, bevor wir urteilen.
- Raum lassen, bevor wir reagieren.
Glaube, Wahrheit und das Risiko der Ausgrenzung
Wahrheitsanspruch ist im religiösen Kontext oft exklusiv. Monotheistische Religionen neigen zur Abgrenzung: Wer die Wahrheit besitzt, grenzt den Irrtum aus. Die Geschichte zeigt: Wahrheit kann zum Machtinstrument werden.
Der Buddhismus bietet eine andere Hermeneutik: Nicht Besitz, sondern Praxis. Nicht Dogma, sondern Erfahrung. Die Lehre vom Nicht-Selbst ist keine Negation des Ichs, sondern eine Einladung, das Ich nicht als feste Größe zu verstehen, sondern als Beziehungsraum.
Ich im Wir – vom reifen Selbst zur reifen Beziehung
In Heideggers Begriff der Eigentlichkeit klingt an: Das Selbst muss sich dem “Man” entziehen, um sich selbst zu finden. Doch auch das Ich braucht das Du, braucht das Wir. Nicht, um sich aufzulösen, sondern um sich zu bewähren.
Ein hermeneutisch gereiftes Ich erkennt das Wir als Spiegel und Gegenüber. Es bleibt offen für Korrektur, für Irritation, für Lernen. Es fragt nicht: Wie kann ich mich behaupten? Sondern: Wie kann ich mich entfalten – im Licht des anderen?
Fazit: Zwischen Sieg und Begegnung
Rechthaben ist eine menschliche Regung. Aber das Leben ist mehr als ein Diskurs. Es ist Beziehung. Und Beziehung braucht Offenheit, Demut, Zuhörenkönnen.
Am Ende geht es nicht um den Sieg über den anderen, sondern um die Möglichkeit, ihm zu begegnen. Und vielleicht ist das Verstehen der stille, aber eigentliche Triumph.
Ein Ich, das sich im Wir bewährt. Ein Wir, das das Ich nicht verschlingt. Vielleicht beginnt hier die wahre Reife.
English version below
Why Do We Always Want to Be Right?
On the self that matures within the “we” – and the righteousness that drives us apart
Being right is more than an intellectual act – it touches our self-understanding, our relationships, our place in the world. What does it mean to be right? What happens when we lose ourselves in the process? And what does our way of arguing about truth reveal about the nature of being human?
Being Right as a Human Need
Humans long for orientation. In our engagement with the world, we seek meaning, security, and recognition. Wanting to be right isn’t simply intellectual vanity; it often reflects our ontological need to be affirmed. As Heidegger suggests, our being is “in-the-world” – interwoven, vulnerable, and dependent on resonance.
To be acknowledged as right is to feel seen. One’s voice matters. The self takes shape through the echo of the other. Thus, being right is never only about arguments – it’s a need for existential validation.
What Argues Within Us: Brain, Self, and the Network
The everyday dispute is rarely about content alone. It’s also an expression of internal states. Our brain, geared toward safety, rewards affirmation with pleasure. Contradiction triggers stress responses. The limbic system signals danger. We react not rationally, but reflexively.
Digital spaces amplify this. Social media narrows the hermeneutic openness we need. There, judgment replaces understanding. What is missing is a space for pause, for interpretation, for truly engaging with what is different.
Dispute as Unspoken Longing
Marshall Rosenberg’s Nonviolent Communication can be read hermeneutically as an attempt to uncover the unsaid meaning behind words. “You never understand me!” is less a reproach than a cry for connection, for recognition, for being seen in the other’s gaze.
When we argue, we often plead for our vulnerability to be acknowledged. Conflict, then, is not disruption – it’s a cry for resonance.
Winning Yet Losing
From a relational perspective: a won argument cannot replace a lost human connection. Being right without being understood is a Pyrrhic victory. A hermeneutic lens doesn’t ask, “Who is right?” but “What remains unsaid? What goes unheard?”
Practical steps:
- Listen before speaking.
- Ask before judging.
- Leave space before reacting.
Faith, Truth, and the Risk of Exclusion
Truth claims, especially in religion, tend to be exclusive. Monotheistic traditions often distinguish sharply: owning the truth means rejecting the error. History teaches us that truth can become a tool of power.
Buddhism offers a different hermeneutic: not possession, but practice. Not dogma, but experience. The doctrine of non-self is not a negation of identity but an invitation to understand the self as a relational process rather than a fixed entity.
Self Within the We
In earlier posts, I emphasized Heidegger’s notion of authenticity: the self must not dissolve into the anonymous “they.” Whoever loses themselves in the collective loses the possibility of true responsibility. And yet: the self also needs the other, needs the “we.” Not to dissolve, but to become.
A hermeneutically matured self recognizes the “we” as mirror and counterpart. It remains open to correction, to discomfort, to learning. It does not ask, “How can I assert myself?” but “How can I unfold – in the light of the other?”
Between Victory and Encounter
Being right is human. But life is more than discourse. It is relationship. And relationship needs openness, humility, and the ability to listen.
In the end, it’s not about triumphing over the other but about the possibility of meeting them. And perhaps understanding is the quieter, yet truer victory.
A self that matures within the “we.” A “we” that does not devour the self. Perhaps this is where true growth begins.