Yeshi: Vom Leid zur Selbstbestimmung
Yeshi schaut mich mit ihren ruhigen, dunklen Augen an. Ihre Stimme ist leise, als sie beginnt, von ihrer Kindheit zu erzählen. „Meine Mutter hat oft geweint,“ sagt sie, „immer mit einem Bild von einem Jungen in der Hand.“ Damals wusste sie noch nicht, dass es ihr Halbbruder war. Heute lebt er in Japan, und sie hat keinen Kontakt zu ihm. Es ist eine Geschichte von Verlust und Entbehrung, von einer Frau, die den Boden unter den Füßen nie richtig fand – bis sie die Kraft aufbrachte, sich ein neues Leben aufzubauen.
Yeshi wächst in einem kleinen Dorf in Nepal auf, doch schon ihre Geburt steht unter einem schlechten Stern. Ihre Großmutter stirbt bei der Geburt ihrer Mutter, der Vater verstößt das Kind. Eine andere Familie nimmt das Mädchen auf, adoptiert es – eine Familie mit zwei Töchtern und einem Sohn. Doch das Schicksal meint es nicht gut: Als eine der Halbschwestern heiratet und einen Sohn bekommt, nimmt ihr Mann Yeshis Mutter als zweite Frau. Eine Dreierbeziehung beginnt, und schnell brechen die Konflikte auf. Bald wird die junge Frau schwanger, mit gerade mal 16 Jahren. Nach der Geburt des Sohnes wird sie erneut verstoßen. Die Adoptiveltern zwingen sie, das Kind bei seinem Vater zu lassen. Sie gehorcht und steht plötzlich wieder auf der Straße.
Yeshis Mutter findet einen neuen Lebensgefährten, wird wieder schwanger – diesmal mit Yeshi. Doch auch dieser Mann bringt kein Glück. „Er war ein Trinker und gewalttätig,“ erinnert sich Yeshi, „ich habe es oft gesehen.“ Aber trotz der schwierigen Umstände bleibt die Familie zusammen. Vier Jahre nach Yeshis Geburt bringt die Mutter noch eine Tochter zur Welt.
Ob sie jemals Hunger verspürt habe, frage ich Yeshi. Sie lacht bitter und schüttelt den Kopf. „Nein, Hunger nicht. Aber oft bin ich hungrig ins Bett gegangen. Daheim gab es oft Streit, und wenn das Essen durchs Zimmer flog, hatte ich keinen Appetit mehr.“ Ein Leben in Unsicherheit und Gewalt, in einem Chaos, aus dem es scheinbar keinen Ausweg gibt.
Doch dann tritt ein buddhistischer Mönch in das Leben der Familie. Er bietet der Mutter an, eines ihrer Kinder in ein Frauenkloster zu bringen. Dort könne das Kind eine Schulausbildung erhalten. Für Yeshi eröffnet sich damit eine neue Welt: Sie zieht ins Arya-Tara-Kloster und wird Nonne. „Das Kloster hat mich zu einer selbstbewussten Frau gemacht,“ sagt sie. Ohne diese Erfahrung wäre sie wohl nie in der Lage gewesen, sich aus der Spirale von Gewalt und Abhängigkeit zu befreien. Einmal hat sie es dennoch versucht, eine Beziehung zu einem Mann wie ihrem Vater – acht Monate, dann reichte es. „Er trank zu viel und wurde handgreiflich,“ erzählt sie. „Ich habe ihn verlassen.“
Yeshis Schwester hatte nicht so viel Glück. Sie heiratet einen solchen Mann, bekommt einen Sohn, und bald übernimmt ihre Mutter die Betreuung des Babys, während die Schwester das Geld verdient. „Er sorgt nicht für die Familie,“ sagt Yeshi, „sie arbeitet, er trinkt.“
In Nepal hat Yeshi lange als Erzieherin in einem Montessori-Kindergarten gearbeitet. 20.000 Rupien (ca. 138 Euro) verdiente sie im Monat, gerade genug, um die Miete (ca. 34 Euro) und das Nötigste zu bezahlen. „Sparen konnte ich nichts.“ Als sich die Möglichkeit bot, nach Zypern zu gehen und dort als „Domestic Worker“ zu arbeiten, zögerte sie nicht lange. Jetzt verdient sie 500 Euro netto, versorgt ihre Mutter, zahlt den Kredit von 3.000 Euro für die Vermittlung der Stelle auf Zypern zurück und hat eine Krankenversicherung.
Die soziale Absicherung hat ihr Leben verändert. Schon kurz nach ihrer Ankunft im April 2024 macht sie Gebrauch davon. Ein Arztbesuch bringt die Diagnose: Eisenmangel. Kein Wunder, dass sie oft müde war. „In Nepal hätte ich mir das nie leisten können,“ sagt sie. Eine einfache Blutuntersuchung war dort für sie unerschwinglich.
Heute wirkt Yeshi gefasst, beinahe ruhig. Ihr Leben hat sie in die Hand genommen, und sie spricht mit Stolz davon, was sie erreicht hat. Doch die Schatten ihrer Vergangenheit bleiben. „Wahrscheinlich hätte ich jemanden wie meinen Vater geheiratet,“ sagt sie, „wenn ich nicht die Chance gehabt hätte, im Kloster zu lernen, was es bedeutet, selbstbestimmt zu leben.“
Yeshi erzählt, wie sie sich auf den Weg in ihr neues Leben machte. Der Flug von Kathmandu nach Larnaka war lang, und beim Umstieg in Qatar begegnete sie anderen nepalesischen Frauen. Frauen, die wie sie das Vertraute hinter sich ließen, um in einem fremden Land eine neue Arbeit anzutreten. Auf dem Flughafen saßen sie beisammen, still und nachdenklich, jede mit ihren Gedanken und Sorgen beschäftigt.
Yeshi beobachtete, wie die Frauen ihre Handys zückten, um noch einmal ihre Familien in Nepal anzurufen. Sie hörte, wie sie sich mit leiser Stimme von ihren Kindern verabschiedeten, immer wieder versichernd, bald wiederzukommen. „Es war herzzerreißend,“ erinnert sich Yeshi. „Ich sah die Tränen in ihren Augen, hörte ihre zitternden Stimmen. Viele hatten kleine Kinder, die sie zurücklassen mussten, weil es keine andere Möglichkeit gab, Geld zu verdienen.“
In diesen Momenten wurde Yeshi klar, dass sie nicht allein war mit ihrer Geschichte. Es war eine stille Verbundenheit zwischen den Frauen, die das gleiche Schicksal teilten. Sie waren auf demselben Weg, von der Not getrieben, aber auch von der Hoffnung getragen. „Wir alle mussten einen Teil von uns zurücklassen,“ sagt Yeshi, „damit unsere Familien eine bessere Zukunft haben.“
Yeshi spricht leise, als sie auf das Thema der Kasten in Nepal zu sprechen kommt. „Es ist offiziell verboten, Menschen wegen ihrer Kaste auszugrenzen,“ sagt sie, „aber das bedeutet nicht, dass es nicht passiert.“ Die Kastenstruktur ist tief in der Gesellschaft verankert, und das Gesetz hat wenig daran geändert. Schon ihr Familienname verrät ihre Herkunft, und damit wird sie sofort kategorisiert: als Unberührbare, als jemand, der am Rand der Gesellschaft steht.
In Nepal hat Yeshi das oft erlebt. „Man sieht es in den Blicken, man spürt es in den Gesprächen,“ erzählt sie. Selbst wenn sie gut ausgebildet ist, prägt ihre Kaste, wie sie behandelt wird. Und diese Erfahrungen hat sie nicht nur in ihrer Heimat gemacht. Auch hier, auf Zypern, wo sie als Hausangestellte arbeitet, ist das Thema präsent.
Es gibt etwa 3.000 nepalesische „Domestic Workers“ auf der Insel, Frauen wie sie, die in fremden Haushalten putzen, kochen und Kinder betreuen, um ihre Familien in Nepal zu unterstützen. Einmal im Monat hat Yeshi frei, einen Sonntag, den sie manchmal nutzt, um sich mit anderen nepalesischen Frauen zu treffen. „Wir kommen zusammen, um ein bisschen Heimatgefühl zu teilen,“ sagt sie. Doch auch in diesen Momenten der vermeintlichen Verbundenheit spürt sie die Trennlinien, die durch ihre Kultur gezogen sind. „Selbst hier, tausende Kilometer von Nepal entfernt, hält uns das Kastensystem gefangen.“
Die Ausgrenzung ist subtil, aber sie ist da. „Auch in den sozialen Medien merke ich es,“ sagt Yeshi. „Manchmal chatte ich mit anderen Nepalis, doch sobald sie erfahren, zu welcher Kaste ich gehöre, verändert sich der Ton. Man hält Abstand, auch digital.“ Es ist eine stille, aber schmerzliche Form der Diskriminierung, die sie ihr Leben lang begleitet hat, selbst jetzt, wo sie in einem fremden Land ihr Glück sucht.
„Ich habe mich daran gewöhnt,“ sagt sie und lächelt traurig. „Aber es tut trotzdem weh. Wir sind alle hier, weil wir das Beste für unsere Familien wollen. Wir alle haben Opfer gebracht, und doch werden einige von uns anders behandelt – einfach, weil sie zu einer anderen Kaste gehören.“
Yeshi hat viel erlebt, mehr als die meisten in einem ganzen Leben ertragen müssen. Doch was aus diesen Erfahrungen hervorgegangen ist, lässt einen staunen: eine kluge, selbstbewusste Frau, die sich von den Schatten ihrer Vergangenheit nicht erdrücken lässt. Trotz ihrer Familiengeschichte, trotz der Ausgrenzungen, die sie sowohl in Nepal als auch hier auf Zypern erlebt hat, hat sie ihren Weg gefunden. Sie ist eine Kämpferin, aber auch eine Träumerin, die an eine bessere Zukunft glaubt.
Ihre Weltanschauung ist buddhistisch, und vielleicht ist es genau diese Haltung, die ihr geholfen hat, so viel Schmerz zu ertragen. „Die Dinge geschehen, aber man kann immer neu anfangen,“ sagt sie. Während das hinduistische Kastensystem sie ihr Leben lang als Unberührbare abgestempelt hat, hat sie gelernt, sich davon nicht bestimmen zu lassen. „Ich bin mehr als ein Name, mehr als eine Kaste,“ betont sie. „Ich bin ich.“
Es ist ihre Stärke, die sie so bewundernswert macht. Yeshi hat sich ein neues Leben aufgebaut, in einem fremden Land, in einer fremden Kultur, und auch wenn sie oft Tränen weint, strahlt sie eine unerschütterliche Lebensfreude aus. Sie ist liebevoll, warmherzig und voller Mut, Eigenschaften, die nicht durch ihre Herkunft, sondern durch ihren Charakter definiert sind. „Es war nicht leicht,“ gibt sie zu, „aber ich habe gelernt, für mich einzustehen.“
Ihre Geschichte ist eine Geschichte von Resilienz, von der Fähigkeit, sich gegen alle Widrigkeiten zu behaupten und den eigenen Weg zu gehen. Sie ist ein Beispiel dafür, dass man sich auch in einem Leben voller Herausforderungen und Entbehrungen die Hoffnung bewahren kann.
Wenn Yeshi heute lächelt, ist es das Lächeln einer Frau, die weiß, wie stark sie ist. Es ist das Lächeln einer Frau, die trotz allem, was sie erlebt hat, nicht verbittert ist, sondern ihre Kraft aus der Freude am Leben schöpft. Sie trägt ihre Vergangenheit mit sich, aber sie lässt sich von ihr nicht definieren. Und das ist es, was sie so außergewöhnlich macht.
Yeshi: From suffering to self-determination
Yeshi looks at me with her calm, dark eyes. Her voice is quiet as she begins to talk about her childhood. ‘My mum often cried,’ she says, ’always with a picture of a boy in her hand.’ At the time, she didn’t realise it was her half-brother. Today he lives in Japan and she has no contact with him. It is a story of loss and deprivation, of a woman who never really found the ground beneath her feet – until she found the strength to build a new life for herself.
Yeshi grows up in a small village in Nepal, but even her birth is under a bad star. Her grandmother dies giving birth to her mother and her father rejects the child. Another family takes the girl in and adopts her – a family with two daughters and a son. But fate does not mean well: when one of the half-sisters marries and has a son, her husband takes Yeshi’s mother as his second wife. A three-way relationship begins and conflicts quickly erupt. The young woman soon becomes pregnant, aged just 16. After the birth of her son, she is once again rejected. The adoptive parents force her to leave the child with his father. She obeys and suddenly finds herself back on the street.
Yeshi’s mother finds a new partner and becomes pregnant again – this time with Yeshi. But this man doesn’t bring happiness either. ‘He was a drunk and violent,’ Yeshi remembers, ’I saw it often.’ But despite the difficult circumstances, the family stays together. Four years after Yeshi’s birth, her mother gives birth to another daughter.
I ask Yeshi if she ever felt hungry. She laughs bitterly and shakes her head. ‘No, not hungry. But I often went to bed hungry. There were often arguments at home and when the food flew around the room, I lost my appetite.’ A life of insecurity and violence, in a chaos from which there seems to be no way out.
But then a Buddhist monk enters the family’s life. He offers the mother the chance to take one of her children to a women’s monastery. There the child could receive an education. This opens up a new world for Yeshi: she moves to the Arya Tara monastery and becomes a nun. ‘The monastery made me a self-confident woman,’ she says. Without this experience, she would probably never have been able to free herself from the spiral of violence and dependency. She did try it once, though, a relationship with a man like her father – eight months, then it was enough. ‘He drank too much and became violent,’ she says. ‘I left him.’
Yeshi’s sister was not so lucky. She married such a man, had a son, and soon her mother took over caring for the baby while her sister earned the money. ‘He doesn’t take care of the family,’ says Yeshi, ’she works, he drinks.’
In Nepal, Yeshi worked for a long time as a teacher in a Montessori kindergarten. She earned 20,000 rupees (approx. 138 euros) a month, just enough to pay the rent (approx. 34 euros) and basic necessities. ‘I couldn’t save anything.’ When the opportunity arose to go to Cyprus and work there as a domestic worker, she didn’t hesitate for long. She now earns 500 euros net, looks after her mother, pays back the loan of 3,000 euros she took out to get the job in Cyprus and has health insurance.
Social security has changed her life. She makes use of it shortly after her arrival in April 2024. A visit to the doctor brings the diagnosis: iron deficiency. No wonder she was often tired. ‘I would never have been able to afford this in Nepal,’ she says. A simple blood test was unaffordable for her there.
Today Yeshi seems composed, almost calm. She has taken control of her life and speaks with pride about what she has achieved. But the shadows of her past remain. ‘I probably would have married someone like my father,’ she says, ’if I hadn’t had the chance to learn in the convent what it means to live a self-determined life.’
Yeshi tells us how she set off on her new life. The flight from Kathmandu to Larnaca was long, and when she changed planes in Qatar, she met other Nepalese women. Women who, like her, were leaving the familiar behind to start a new job in a foreign country. They sat together at the airport, quiet and thoughtful, each preoccupied with her own thoughts and worries.
Yeshi watched as the women pulled out their mobile phones to call their families in Nepal once again. She heard them saying goodbye to their children in low voices, repeatedly assuring them that they would be back soon. ‘It was heartbreaking,’ Yeshi remembers. ‘I saw the tears in their eyes, heard their trembling voices. Many had small children that they had to leave behind because there was no other way to earn money.’
In those moments, Yeshi realised that she was not alone in her story. There was a silent bond between the women who shared the same fate. They were on the same path, driven by hardship, but also carried by hope. ‘We all had to leave a part of ourselves behind,’ says Yeshi, ’so that our families could have a better future.’
Yeshi speaks softly as she addresses the issue of caste in Nepal. ‘It’s officially forbidden to marginalise people because of their caste,’ she says, ’but that doesn’t mean it doesn’t happen.’ The caste structure is deeply rooted in society, and the law has done little to change it. Her surname alone reveals her origin, and she is immediately categorised as an untouchable, as someone on the margins of society.
Yeshi has often experienced this in Nepal. ‘You can see it in the looks, you can feel it in the conversations,’ she says. Even if she is well educated, her caste characterises how she is treated. And she has not only experienced this in her home country. The issue is also present here in Cyprus, where she works as a domestic worker.
There are around 3,000 Nepalese domestic workers on the island, women like her who clean, cook and look after children in other people’s homes to support their families in Nepal. Yeshi has a Sunday off once a month, which she sometimes uses to meet up with other Nepalese women. ‘We come together to share a little bit of the feeling of home,’ she says. But even in these moments of supposed connection, she senses the dividing lines drawn by her culture. ‘Even here, thousands of kilometres away from Nepal, the caste system holds us captive.’
The marginalisation is subtle, but it is there. ‘I also notice it on social media,’ says Yeshi. ‘Sometimes I chat with other Nepalis, but as soon as they find out which caste I belong to, the tone changes. People keep their distance, even digitally.’ It is a silent but painful form of discrimination that has accompanied her throughout her life, even now that she is seeking her fortune in a foreign country.
‘I’ve got used to it,’ she says, smiling sadly. ‘But it still hurts. We are all here because we want the best for our families. We have all made sacrifices, and yet some of us are treated differently – simply because we belong to a different caste.’
Yeshi has experienced a lot, more than most people have to endure in a lifetime. But what has emerged from these experiences is astonishing: a smart, self-confident woman who does not allow herself to be crushed by the shadows of her past. Despite her family history, despite the marginalisation she experienced both in Nepal and here in Cyprus, she has found her way. She is a fighter, but also a dreamer who believes in a better future.
Her worldview is Buddhist, and perhaps it is precisely this attitude that has helped her to endure so much pain. ‘Things happen, but you can always start again,’ she says. While the Hindu caste system has labelled her as an untouchable all her life, she has learned not to let it define her. ‘I am more than a name, more than a caste,’ she emphasises, ’I am me.’
It is her strength that makes her so admirable. Yeshi has built a new life for herself, in a foreign country, in a foreign culture, and even though she often cries tears, she radiates an unshakeable zest for life. She is loving, warm-hearted and full of courage, qualities that are not defined by her origins, but by her character. ‘It wasn’t easy,’ she admits, ’but I learnt to stand up for myself.’
Her story is a story of resilience, of the ability to stand your ground against all odds and go your own way. It is an example of how you can retain hope even in a life full of challenges and hardship.
When Yeshi smiles today, it is the smile of a woman who knows how strong she is. It is the smile of a woman who, despite everything she has experienced, is not bitter but draws her strength from the joy of life. She carries her past with her, but she doesn’t let it define her. And that is what makes her so extraordinary.