Zwischen zwei Welten – Menschlichkeit und ihre Grenzen

Junge: „Warum gibt es überall auf der Welt Menschen, die andere wegen ihrer Herkunft oder ihres Aussehens schlecht behandeln?“
Elefant: „Weil viele Angst vor dem Unbekannten haben und nicht sehen, dass wir tief in uns alle gleich sind. Doch genau deshalb sind solche Feste wie heute so wichtig. Sie erinnern uns daran, dass echte Stärke in der Gemeinschaft und im gegenseitigen Respekt liegt.“
10:45 Uhr in Nepal. 6:00 Uhr in Deutschland. Ich schalte Deutschlandfunk Nova ein und höre die Nachrichten: Regierungserklärung von Olaf Scholz. Die CDU will Asylgesetze verschärfen. Die USA steigen aus dem Weltklimaabkommen aus. Die Weltuntergangsuhr steht auf 89 Sekunden vor 12 – gestern wurde sie um eine weitere Sekunde vorgestellt. In Deutschland gedenkt man der Befreiung von Auschwitz vor 80 Jahren. 1,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden dort von Deutschen ermordet.
Ich sitze in Nepal, einem Land, das in Europa kaum jemand auf der Landkarte findet. Einem Land, das nicht nur von Erdbeben und wirtschaftlicher Unsicherheit, sondern auch von tief verwurzelten gesellschaftlichen Strukturen geprägt ist. Ich kenne kaum einen Deutschen, der hier leben möchte – es sei denn, er hat persönliche Bindungen. Dennoch frage ich mich: Wie frei und gerecht ist unsere „westliche Welt“ wirklich? Und ist Nepal tatsächlich der Ort voll Menschlichkeit, als den ich ihn oft beschrieben habe?
Menschlichkeit ist relativ
Hier in Kathmandu erlebe ich Menschen, die mich mit offenen Armen empfangen, die kaum etwas besitzen, aber mit einer Selbstverständlichkeit teilen, die im Westen verloren gegangen scheint. In Pokhara sehe ich, wie ein Rikschafahrer einem blinden Mann über die Straße hilft, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. In der Nachbarschaft von Yeshi bringt eine Frau einer alten Nachbarin jeden Morgen Tee – nicht, weil es von ihr erwartet wird, sondern weil es für sie selbstverständlich ist.
Dalits – Diskriminierung im Schatten der Tempel
Das Kastensystem wurde in Nepal offiziell 1963 abgeschafft. Doch in den Dörfern ist es nach wie vor gelebte Realität. Dalits, die „Unberührbaren“, erfahren Diskriminierung, die sich ein Europäer kaum vorstellen kann. Sie dürfen oft nicht die gleichen Brunnen wie die „Höherstehenden“ nutzen. Ihnen wird der Zugang zu Tempeln verwehrt. In Schulen werden ihre Kinder ignoriert, in Restaurants erhalten sie nur widerwillig Bedienung. Und wenn sie sich wehren, droht ihnen soziale Ächtung oder Schlimmeres.
Yeshi erlebte das am eigenen Leib. Ihr Vater, selbst ein Dalit, versteckte seine Herkunft so lange wie möglich. Erst als sie 17 war, erfuhr sie die Wahrheit – auf brutalste Weise. Ein Beamter zerriss vor ihren Augen ihr Abschlusszeugnis, weil ihr Vater sie mit falschen Angaben in die Schule geschickt hatte. Mit einem einzigen Akt bürokratischer Willkür wurde ihre Zukunft zerstört – nur wegen ihrer Geburt.
Menschlichkeit hat Grenzen. In Deutschland zeigt sich das in der Debatte um Migration. In Nepal zeigt sich das in der Diskriminierung der Dalits.
Deutschland – sicher, aber entfremdet
Während Dalits in Nepal gegen ihre Diskriminierung kämpfen müssen, sehe ich in Deutschland eine ganz andere Realität: eine Gesellschaft, die sich zunehmend abschottet.
Deutschland hat eine lange Geschichte der Migration. Schon im 19. Jahrhundert wanderten Hunderttausende Deutsche aus – nach Amerika, Argentinien oder Australien, auf der Suche nach einem besseren Leben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland selbst zum Ziel für Migranten: Gastarbeiter aus Italien, Griechenland und der Türkei halfen, das Wirtschaftswunder aufzubauen. In den 90er-Jahren kamen Geflüchtete aus dem zerfallenden Jugoslawien, 2015 Hunderttausende aus Syrien und Afghanistan.
Doch heute ist die Stimmung gekippt. Harte Asylgesetze, verschärfte Grenzkontrollen, Diskussionen über Abschiebungen – in einem Land, das selbst von Migration geprägt wurde. Dabei zeigen Statistiken, dass Deutschland Migration braucht: Ohne Einwanderung würde die Bevölkerung dramatisch schrumpfen. Eine alternde Gesellschaft braucht Arbeitskräfte – doch statt Chancen zu schaffen, werden Barrieren errichtet.
Aber auch Deutschland hat seine Kasten. Sie sind nicht in heiligen Schriften festgehalten, aber sie existieren. Wer in ein armes Elternhaus geboren wird, hat es schwer, aufzusteigen. Wer einen ausländischen Namen trägt, hat schlechtere Jobchancen. Wer in „sozialen Brennpunkten“ aufwächst, bekommt oft nicht die gleiche Bildung wie Kinder aus wohlhabenden Stadtteilen.
Nepal und Deutschland – zwei Systeme, ein Dilemma
Lösungsansätze: Was tun?
In Deutschland – Menschen statt Zahlen sehen:
• Faktenbasierte Zuwanderungspolitik.
• Bildungsgerechtigkeit für Kinder mit Migrationshintergrund.
• Offene, sachliche Debatte statt populistischer Angstmacherei.
In Nepal – Kasten-Diskriminierung beenden:
• Menschenrechtsbildung an Schulen.
• Durchsetzung geltender Gesetze.
• Stärkung des Selbstwerts junger Dalits durch Vorbilder.
Fazit: Menschlichkeit ist keine Selbstverständlichkeit
Nepal und Deutschland könnten nicht unterschiedlicher sein. Nepal ist ein Land voller Gemeinschaft, aber auch voller Ungerechtigkeit. Deutschland ist ein Land voller Sicherheit, aber auch voller Distanz. Was bedeutet das für mich? Dass ich weder das eine noch das andere glorifizieren darf. Dass Menschlichkeit kein Selbstläufer ist – weder in Nepal noch in Deutschland. Dass wir immer genau hinschauen müssen, wer in einer Gesellschaft wirklich von Menschlichkeit profitiert – und wer nicht.
Menschlichkeit existiert überall. Aber sie ist niemals selbstverständlich.
↓ English version
Between Two Worlds – Humanity and Its Limits

Boy: „Why are there people all over the world who treat others badly because of their origin or appearance?“
Elephant: „Because many are afraid of the unknown and don’t realise that deep down we are all the same. But that’s exactly why celebrations like today are so important. They remind us that real strength lies in community and mutual respect.“
10:45 a.m. in Nepal. 6:00 a.m. in Germany. I turn on Deutschlandfunk Nova and listen to the news: government statement by Olaf Scholz. The CDU wants stricter asylum laws. The U.S. is leaving the climate agreement. The Doomsday Clock has moved one second closer to midnight—now 89 seconds. In Germany, people commemorate the liberation of Auschwitz 80 years ago. 1.5 million people were murdered there by Germans.
I sit in Nepal, a country few in Europe can locate on a map. A country shaped not only by earthquakes and economic uncertainty but also by deeply rooted social structures. I know hardly any Germans who would want to live here—unless they have personal ties. Still, I ask myself: How free and just is our “Western world”? And is Nepal truly the place of humanity I often described?
Humanity is Relative
Here in Kathmandu, I meet people who welcome me with open arms, who possess little but share with natural ease. In Pokhara, a rickshaw driver helps a blind man cross the street without expecting anything in return. In Yeshi’s neighborhood, a woman brings tea every morning to an elderly neighbor—not out of duty, but because it feels right.
Dalits – Discrimination in the Shadow of the Temples
The caste system was officially abolished in 1963. But in rural Nepal, it remains reality. Dalits—the “untouchables”—face forms of discrimination unimaginable in Europe. They’re denied access to temples, forbidden to use public wells, ignored in schools, or served reluctantly in restaurants. Protesting can lead to social exclusion—or worse.
Yeshi experienced this firsthand. Her father, a Dalit, hid his identity for years. When she was 17, an official tore up her diploma in front of her—because her father had lied about their caste. In a single act of bureaucratic cruelty, her future was destroyed. Because of her birth.
Humanity has limits. In Germany, this shows in the migration debate. In Nepal, in the treatment of Dalits.
Germany – Safe but Alienated
While Dalits in Nepal fight for dignity, Germany faces a different challenge: increasing isolationism. Germany has long been shaped by migration: 19th-century emigrants, post-war guest workers, refugees from Yugoslavia in the ’90s, hundreds of thousands from Syria and Afghanistan in 2015. And yet, we see harsh asylum policies and closed borders.
Statistics show that Germany needs immigration. An aging population requires new workers. But instead of creating opportunities, we build barriers.
Germany, too, has its castes—not sacred, but real. Children from poor families have little chance to rise. Those with foreign names face job discrimination. Those from struggling neighborhoods receive poorer education.
Nepal and Germany – Two Systems, One Dilemma
What Can Be Done?
In Germany – See People, Not Numbers:
• Fact-based immigration policies.
• Equal education for children with migrant backgrounds.
• Rational debate instead of populist fear-mongering.
In Nepal – End Caste Discrimination:
• Human rights education in schools.
• Enforce existing anti-discrimination laws.
• Encourage Dalit role models to inspire confidence.
Conclusion: Humanity Isn’t a Given
Nepal and Germany could not be more different. Nepal is full of community—and injustice. Germany offers security—but often lacks closeness. What does this mean to me? That we must not glorify either side. That humanity isn’t automatic. That we must look closely at who really benefits—and who is left behind.
Humanity exists everywhere. But it is never guaranteed.