Houseboat

Das Telefon zeigt eine Nachricht von Francis an: „Sorry, aber ich komme heute nicht.“ „Das ist die bessere Entscheidung. Sieben Stunden Fahrt sind zu viel. Wir sehen uns. Alles Gute“, antworte ich. Während ich vor einigen Jahren mit Francis an einem Projekt für einen russischen Kunden arbeitete, schwärmte er von „God‘s own country“, von Kerala, von seiner Heimat. Eines Tages verließ er das Projekt und zog zurück, um seinen Eltern zu helfen. Inzwischen ist er verheiratet und wohnt in Thiruvananthapuram, dreieinhalb Stunden südlich von Kottayam.

Es ist 9:00 Uhr. Die Luft hat sich bereits mit Wasser vom Meer und von den Backwaters vollgesogen. Auf dem Weg zum Frühstücksraum steht mir der Schweiß auf der Stirn.

Das Hotel ist mit einer Ausnahme mit Gästen einer Hochzeitsfeier belegt, die gestern Abend in einem eindrucksvollen Feuerwerk kulminierte. Im Frühstücksraum kennt man sich – mit einer Ausnahme – und führt über mehrere Tische hinweg angeregte Konversationen. Ich verstehe mein eigenes Wort nicht mehr. Wofür auch?

Zum Frühstück ist das Buffet so reichhaltig, wie bei uns am Abend. Was ich für Rührei halte, entpuppt sich als frittierte Bananen. Obst gibt es zum Glück reichlich und Omeletts werden frisch zubereitet. Die Getränkeauswahl ist interessant.

Das Interview mit Konfliktforscher Hein Goemans zur Frage, wann Kriege aufhören, lese ich auf meiner Veranda bei einer Tasse Tee in aller Ruhe zu Ende. Dabei überkommt mich das Gefühl, als lebe ich auf einem anderen Planeten. Angesichts zunehmender Unwetter, steigender Wasserpegel und Preise und dem Verlust von Arbeitsplätzen stellen sich hier Millionen Menschen tagtäglich die Überlebensfrage und betäuben sich mit Alkohol, während sich andernorts Menschen aus ideologischen Gründen gegenseitig umbringen. Soll der Mensch wirklich die Krönung der Schöpfung sein?

Ich verlasse die Hotelanlage, komme an zwei Kontrollposten des Hotels vorbei und gehe weiter zur Hauptstraße. Dort biege ich Richtung Kanal ab. Auf dem Weg zur Brücke sprechen mich mehrere Herren mit „Houseboat?“ an.

Kapitän Sanju
Kapitän Sanju

Hinter der Brücke fällt mir ein mit Lungi gekleideter Herr auf, der mich zwar auch mit „Houseboat?“ anspricht, mir aber auf Anhieb sympathisch ist. „Yes, houseboat.“ Er bietet eine einstündige Fahrt an, ich will drei oder vier. Wir nicken beide und dann haste ich ihm hinterher. Runter zum Kanal, an drei, vier Booten vorbei, und dann sind wir auch schon an seinem Boot. Es ist zwar nicht eines dieser ehemaligen Reis-Boote, die ich mir vorgestellt hatte, aber handelseinig ist handelseinig. Schnell rückt mein Kapitän sechs Gartenstühle zurecht und legt auf jeden ein frisches Handtuch. Er reicht mir die Hand, ich besteige das Boot und fühle mich auf Anhieb sicher. Los geht‘s.

Backwater (Kanal)
Backwater (Kanal)

Der kleine Außenbordmotor nimmt knatternd seine Arbeit auf. Der Kapitän stellt sich als Sanju vor und freut sich offensichtlich über ein gutes Geschäft. Mit seinem Einkommen unterhält er seine Frau, zwei kleine Kinder, seine alte Mutter und sich.

Die Uferböschung ragt auf beiden Seiten nur wenige Zentimeter über die Wasseroberfläche. Auf den Dämmen ducken sich zwischen Palmen und Stauden kleine Häuser, oft nur mit Küche und einem Schlafzimmer. Dahinter Reisfelder. Am Feld abgestellte Traktoren.

Traktoren am Rande der Reisefelder
Traktoren am Rande der Reisfelder

Ehrfürchtig schreitende Frauen in ihren Saris sorgen für Farbtupfer inmitten des saftigen Grüns. Kinder nehmen ein Bad. Eine Mutter lehrt ihren Sohn das Schwimmen. Eine Frau schleift ein Messer. Wäsche wird gewaschen. Fische werden geangelt und ausgenommen. Im Schatten von Palmen ruhen sich Menschen aus. Libellen und Schmetterlinge tanzen über dem Wasser und um unser Boot. Reiher trocknen ihre Flügel in der Sonne. Paddyreiher mit ihren weißen Flügeln tauchen vielerorts aus dem Dickicht auf. Adler kreisen am Himmel. Wieder beeindruckt mich der Inder mit seinen scharfen Augen und mit seiner Kenntnis über Flora und Fauna. Er sieht Vögel und Schlangen, wo ich nichts sehe. Er kennt die Namen der Pflanzen, nicht nur Banane und Kokosnuss.

Paddyreiher
Paddyreiher

Der kräftige zweite Monsoon hat für leicht gestiegene Wasserstände gesorgt. Das erschwert die Durchfahrt unter einigen Brücken. Als das Bootsverdeck tatsächlich gegen eine Brücke prallt, bittet mich Sanju, ganz nach vorne zu kommen. Das Boot neigt sich ein, zwei Zentimeter. Das reicht aus. Wir fahren weiter.

Brücke, deren mittlere Durchfahrt versperrt ist
Brücke, deren mittlere Durchfahrt versperrt ist

Die großen Entenkolonien sind so leise wie alles um mich herum. Ganz anders in Itzehoe.

Entenkolonie
Entenkolonie

Pumpen fördern das Wasser von den Reisfeldern in den Kanal.

Mehrere Männer verladen schwere Reissäcke von einem Reis-Boot auf einen LKW. Die drei Träger tragen die gleichen orangenen Hemden. Zwei Männer hiefen gemeinsam einen Sack auf den Kopf eines Trägers, der diesen dann über ein langes Brett auf den LKW befördert.

Reis wird vom Boot auf den LKW verladen
Reis wird vom Boot auf den LKW verladen

Sanju fragt immer wieder Leute nach einem Weg. Alle zeigen in die gleiche Richtung, der unser Boot folgt. Irgendwo wird gegrillt. Es riecht lecker. Sanju legt an. Ruft Leuten etwas zu. Ich gehe von Bord. Was ich essen möchte, fragt mich der Chef. Fisch, es gibt nur Fisch. Frischen Fisch. Ein anderer schließt eine Hütte auf, was zwei kleine Katzen aufschreckt, die schnell das Weite suchen.

Mittagspause!
Mittagspause!

An der Decke sorgt ein Ventilator für eine leichte Brise. Ich soll mich setzen, deutet mir der Chef. Was ich trinken möchte. Sanju empfiehlt Coconut Torri. Ich sage zu allem Ja. Mir wird ein Tonkrug mit einer milchigen Flüssigkeit und ein Glas gereicht. Das Torri prickelt so schön auf der Zunge. Ich gewöhne mich schnell an den fremden Geschmack und leere zwei, drei Gläschen.

Im Langbau nebenan führen zwei Männergruppen angeregte Gespräche. Frauen sehe ich weit und breit keine. Die sah ich unterwegs an ihren Häusern mit ihren Kindern und alten Leuten.

Der Chef reicht mir gegrillten Fisch mit Tomaten und Zwiebeln auf einem Bananenblatt. Ob ich Messer und Gabel haben könnte, frage ich. Kurz drauf erhalte ich die westlichen Kulturgüter und esse völlig alleingelassen mit meinem Coconut Torri den leckeren Fisch.

Ich zahle und werde dabei im Langhaus von mehreren ehrenwerten Herren in ihren Dhotis bierselig begrüßt.

Ich gehe zurück zum Boot. Sanju kommt angerannt und hilft mir wieder an Bord. Ob Coconut Torri Alkohol enthält, möchte ich wissen. Sanju ist sich da ganz sicher.

Brahmanenmilan auf der Mauer
Brahmanenmilan auf der Mauer

Auf der Rückfahrt beobachtet uns von einer Mauer aus ein Brahmanenmilan und bleibt auch sitzen, während Sanju das Boot noch einmal zurückfährt.

Ein Fischer zieht sein rotes Netz mit einigen kleinen Fischen in sein Boot.

Wir erreichen den Ausgangspunkt unserer Houseboat-Fahrt. Sanju legt an. Ich verlasse das Boot. Auf die Minute genau vier Stunden. Ich zahle ihm fünf.

Auf dem Rückweg empfiehlt mir Sanju dringend eine Ganzkörpermassage nach Ayurveda und begleitet mich zu einer ausgewiesenen Ärztin in einer chicen Praxis. Ich zähle mich zu den Naturalisten und lache über mich selbst, während ich mit der Ärztin die verschiedenen Optionen bespreche und für morgen Vormittag das Paket mit zwei Stunden absoluter Entspannung buche. Mein Lachen irritiert die Ärztin. „Ich kann auch ganz ernst.“ „Nein, bitte nicht.“